„Pandemie war ein Brennglas“
Rechtsdepesche: Inwieweit hat die Pandemie gezeigt, dass Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern in Deutschland neu gedacht werden muss?
Dr. Gerald Gaß: Vor allem sollten wir vorab festhalten, dass unser Gesundheitssystem wesentlich dazu beigetragen hat, dass wir gut durch die Pandemie gekommen sind.
Sie war in allen Bereichen unseres Lebens und der Gesellschaft ein Brennglas, sowohl für das Positive als auch für die Verbesserungsnotwendigkeiten. Gerade die stationäre Versorgung, aber auch viele niedergelassene Ärzte, haben dafür gesorgt, dass in Deutschland zu keinem Zeitpunkt ein Corona-Patient nicht versorgt werden konnte, anders als in vielen anderen europäischen Ländern. Aber natürlich sind auch Probleme deutlich geworden.
Zuvorderst die Mängel bei der Digitalisierung, die gezeigt haben, wie sehr in den letzten Jahren bei der Investitionsförderung gespart wurde. Neu denken müssen wir auch beim Thema Fachkräftemangel. Denn die Pandemie hat gezeigt, dass Betten allein keine Kranken behandeln können und unser gesamtes Gesundheitssystem mit seinen Beschäftigten steht und fällt. Zukunftsweisend waren die regionalen Netzwerke, die die Krankenhäuser trägerübergreifend während der Pandemie gebildet haben. Sie müssen der Ausgangspunkt für die Neuorientierung in der Gesundheitsversorgung sein, die wir so dringend benötigen.
Rechtsdepesche: Wie sehen Ihre Vorschläge zur Reform der Krankenhausfinanzierung aus?
Gaß: Beim Thema Finanzierung gibt es zwei Aspekte, die Investitions- und die Betriebskostenfinanzierung. Wir brauchen endlich eine auskömmliche Investitionsfinanzierung. Sie ist Ausgangspunkt für eine patientenorientierte moderne und effiziente Krankenhausversorgung. 6 bis 7 Milliarden Euro werden jedes Jahr für dringende Investitionen in den Kliniken benötigt. Die Länder zahlen aber nur rund 3 Milliarden. Wir brauchen hier endlich ein klares Bekenntnis, dass die Länder ihrer Investitionspflicht voll umfänglich nachkommen. Deshalb schlagen wir ein Anreizsystem vor, das jene Länder belohnt, die die notwendigen Investitionsmittel zur Verfügung stellen. Wenn eine definierte Investitionsquote überschritten wird, werden die Landesmittel durch den Bund kofinanziert.
Die zweite Baustelle bei der Finanzierung ist das Fallpauschalen-Vergütungssystem (DRG). Aus unserer Sicht muss es stärker durch Vorhaltefinanzierungselemente flankiert werden. Die Anforderungen an die Gesundheitsversorgung sind regionale sehr unterschiedlich. Ein zukunftsfähiges Vergütungssystem muss die Vorhaltekosten für bedarfsnotwendige Versorgung viel stärker berücksichtigen. Denn ländliche Kliniken mögen geringere Fallzahlen aufweisen, haben aber trotzdem laufende Kosten der Bereithaltung, die mit einer rein leistungsabhängigen Finanzierung nicht gedeckt werden können. Die Notfallversorgung muss flächendeckend und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Und ein reformiertes Vergütungssystem muss sektorenübergreifend funktionieren. Es muss uns die Möglichkeit geben, die ambulanten Potentiale der zu nutzen. Nur so können wir gleichwertige Lebensbedingungen auch auf dem Land halten, wo die Versorgung durch den niedergelassenen Bereich immer schwieriger wird.
Rechtsdepesche: Wo hakt es bei der Finanzierung der Häuser in der Umsetzung Ihrer Ideen und Vorschläge? Wo sind die Blockaden?
Gaß: Wesentlich wird sein, dass man bei einer DRG-Reform nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Wir müssen evolutionär weiterentwickeln, in dem wir das derzeitige Vergütungssystem durch Vorhalteelemente flankieren.
„Krankenhäuser: Strukturwandel bereitet uns Sorgen“
Rechtsdepesche: Stichwort Kliniksterben, wohin geht die Reise?
Gaß: 2020 sind etwa gleich viele Krankenhäuser in die Insolvenz gegangen wie 2019.
Was uns Sorgen bereitet, ist der kalte Strukturwandel. Abteilungs- und Standortschließungen erfolgen unvermittelt und vielfach ohne das die drängende Frage von Ersatzlösungen beantwortet wurde. Sie gefährden damit die bisher gute und flächendeckende Versorgung der Patienten in Deutschland. Hier muss die Politik aus der Passivität herauskommen und in eine verantwortungsvolle Planung übergehen, die immer die Versorgung der Menschen im Blick hat. Strukturveränderungen müssen transparent werden und die berechtigten Interessen der Menschen berücksichtigen.
Rechtsdepesche: Zentralisierung komplexer Leistungen und wohnortnahe Strukturen – wie soll in diesem Spannungsfeld für Ruhe gesorgt werden?
Gaß: Die Zentralisierung von hochspezialisierten Leistungen und die Aufrechterhaltung der Grundversorgung sind kein Widerspruch. Sie müssen vielmehr zusammengedacht werden. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen bieten hierfür hervorragende Optionen. Zentrales Leitbild in unserem Konzept zur Weiterentwicklung der stationären Versorgungsstrukturen ist die Förderung und Etablierung regionaler krankenhauszentrierter Versorgungsnetzwerke. Die Krankenhäuser übernehmen dann in den regionalen Versorgungsnetzwerken die Sicherstellung der voll- und teilstationären Versorgung. Und diese erbringen vielfältige ambulante Leistungen. Wir sehen sie als integrierte Dienstleistungszentren Die Einbindung der Krankenhäuser in die regionalen Netzwerkstrukturen und die Zuordnung von Versorgungszuständigkeiten sollten in erster Linie über das eigenverantwortliche Zusammenwirken der Krankenhäuser in den Regionen erfolgen. Soweit erforderlich, müssten die Definition von Versorgungsregionen und die Aufgabenzuordnungen in der Krankenhausplanung der Länder erfolgen. Und damit kann das Zusammenspiel von Spezialisierung und wohnortnahen Strukturen gelingen.
„Ambulante und stationäre Versorgung zusammenführen“
Rechtsdepesche: Müssen weiter Kliniken zusammengelegt werden, und wie sieht es dann aus in der ländlichen Versorgung?
Gaß: Aus unserer Sicht müssen die Krankenhausstrukturen in den Regionen bedarfsgerecht und damit auch sektorübergreifend weiterentwickelt werden. Das kann auch sorgsam geplante Standortfusionen zu Folge habe. Die regionalen Versorgungsnetzwerke sind gerade für die ländliche Versorgung von zentraler Bedeutung Wir müssen vor allem im ländlichen Raum ambulante und stationäre Versorgung zusammendenken und zusammenführen. Nur so werden wir dem zunehmenden Ärztemangel im niedergelassenen Bereich entgegenwirken können. Vor dem Anspruch, gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu garantieren, ist dies zur Sicherung der Daseinsvorsorge in der Gesundheitsversorgung unerlässlich.
Rechtsdepesche: Wie wird die Zukunft der stationären Versorgung aussehen?
Gaß: Wir sehen die Zukunft in einer zusammengeplanten sektorübergreifenden Versorgung, die vor allem auch die ambulanten Potentiale der Kliniken optimal nutzt, zum Nutzen der Patienten.
„Corona-Ausgleichszahlungen haben Kliniken gerettet“
Rechtsdepesche: Inwieweit haben Corona-Ausgleichszahlungen des Bundes Kliniken vor der Pleite gerettet?
Gaß: Die Ausgleichszahlungen waren natürlich fundamental wichtig, um den Krankenhäusern in der Pandemie den Rücken freizuhalten. Nur durch die Rettungsschirmpolitik der Bundesregierung hatten die Kliniken im Jahr 2020 die Möglichkeit, sich für die COVID-Versorgung aufzustellen, ohne in wirtschaftliche Schieflage zu geraten. Ohne die Zahlung an die Krankenhäuser wären viele Kliniken in schweres Fahrwasser geraten und es hätte sicherlich viele Insolvenzen gegeben. Die normale, leistungsbezogene Krankenhausfinanzierung kann einen solchen Ausnahmefall nicht abfedern. Den Fall- und damit einhergehenden Erlösrückgang hätten viele Kliniken nicht verkraftet. Gleichzeitig hat gerade die Pandemie und die Versorgung der COVID-Patienten für extrem angestiegen Kosten gesorgt. Man denke nur an die Wucherpreise bei der persönlichen Schutzausrüstung zu einem Zeitpunkt, als diese besonders stark benötigt wurde. Deshalb war die politische Entscheidung zur Ausgleichszahlung absolut richtig und notwendig.
Rechtsdepesche: Wie stehen Sie zu höheren Löhnen für Pflegefachkräfte?
Gaß: Mit der Frage nach den höheren Löhnen kommen wir zum großen Thema des Fachkräftemangels. Gut ausgebildetes und motiviertes Personal ist die Grundvoraussetzung für eine hochwertige medizinische Versorgung. Und dazu gehören natürlich auch adäquate und gute Gehälter. Krankenhäuser möchten die Vergütung ihrer Beschäftigten natürlich wettbewerbsfähig weiterentwickeln, und deshalb erwarten wir auch, dass die Kosten für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern und nicht nur für das Pflegepersonal vollständig refinanziert werden. Wir brauchen die Möglichkeit, marktgerechte Gehälter zahlen zu können. Und in der Pandemie ist der Gesellschaft deutlich geworden, wie wichtig diese Berufe sind. Ich will aber auch betonen, dass die Gehälter in der Pflege in den letzten Jahren bereits deutlich zugelegt haben und viele Arbeitgeber auch eine ergänzende, betriebliche Altersversorgung finanzieren.
„Die Politik muss Pflegeberufe entbürokratisieren“
Rechtsdepesche: Ist nur über eine Lohnsteigerung eine personelle flächendeckende Grundversorgung zu gewährleisten?
Gaß: Wir brauchen vor allem eine adäquate Personalausstattung. Wenn Sie Pflegefachkräfte fragen, was ihnen am wichtigsten ist, damit sie auch in Zukunft diesen Beruf ausüben, ist es fast immer der Wunsch nach mehr Kolleginnen und Kollegen. Es geht darum, so viel Zeit für die Patientinnen und Patienten zu haben, dass man den Beruf so ausüben kann, wie man ihn gelernt hat und wie es der eigene Anspruch gebietet. Es geht aber auch um das sogenannte feste Frei und generell die Planbarkeit von Beruf und Privatleben. Die Politik muss den Beruf aber auch endlich entbürokratisieren. Wenn Pflegekräfte drei bis vier Stunden ihres Tages nur mit Dokumentationspflichten verbringen, entspricht das nicht dem ursprünglichen Berufsbild.
„Wir brauchen mehr Mitarbeitende“
Rechtsdepesche: Warum leistet sich ein so reiches Land wie die BRD so eine zähe, kräftezehrende Debatte um Löhne für Pflegerinnen und Pfleger? Gerade nach der intensiven Arbeitsbelastung während der Pandemie?
Gaß: Wir haben lange Zeit gesamtgesellschaftlich die Debatte über sogenannte systemrelevante Berufe versäumt, und jetzt in der Not ist es uns wieder bewusst geworden. Gerade bei der ambulanten Pflege und bei den Pflegeheimen besteht dringender Handlungsbedarf. In den Kliniken haben wir schon im vergangenen Jahrzehnt immer mehr Mitarbeitende eingestellt und die Arbeitsbedingungen verbessert. Aber wir brauchen noch mehr Mitarbeitende.
Die Krankenhäuser haben immer dafür gekämpft, dass die Tariferhöhungen auch refinanziert werden. Vielfach haben sich die Krankenkassen vor Ort in den Budgetverhandlungen dagegen gestellt und wollten dies nicht. Selbst jetzt beim Pflegebudget kämpfen wir mit den Kostenträgern um die Anerkennung von Personal in diesem Pflegebudget. Gesellschaftlich Ist aber ein breiter Konsens gegeben, dass die Arbeitsbedingungen und die Gehälter für Pflegekräfte besser werden müssen. Aber immerhin verdienen Fachkräfte in der Krankenpflege schon heute spürbar mehr als ein Durchschnittsgehalt.
Rechtsdepesche: Inwieweit ist die Solidarität, die in der Pandemie so inflationär überall eingefordert wurde, auf dem Prüfstand, wenn es um Klinikpersonal und das Binnenklima geht? Kurz: wie ist die Stimmungslage in den Häusern und was beeinflusst sie am meisten?
Gaß: Die Stimmung ist gemischt. Die letzten 15 Monate waren extrem anstrengend, belastend und auch ermüdend. Andererseits haben die Teams großartig zusammengearbeitet und Großartiges geleistet. Diese Erkenntnis erzeugt natürlich auch Zufriedenheit. Wichtig wird nur sein, dass die Versprechen gehalten werden. Nie zuvor wurde so oft das Wort „systemrelevant“ benutzt. Nun muss die Gesellschaft auch zeigen, dass sie es mit Inhalt füllen kann.
Zur Person: Der Diplom-Volkswirt und Diplom-Soziologe Dr. Gerald Gaß ist seit November 2017 Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Bis 2021 führte er zudem die Geschäfte des Landeskrankenhauses Rheinland-Pfalz in Andernach.
Durch das Interview führte Chefredakteur Alexander Meyer-Köring