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Rechtsdepesche: Stichwort Intensivbetten – wie ist die Entwicklung der Intensivzahlen bei Covid-Patienten im Augenblick?
Prof. Dr. Gernot Marx: Wir Intensivmediziner sind derzeit optimistisch und haben die Lage auf den Intensivstationen mit Blick auf die Versorgung und Behandlung der COVID-19-Patienten im Griff. Die Situation ist stabil.
So werden aktuell rund 2000 Patienten mit einem schweren Corona-Verlauf auf den Intensivstationen behandelt. Im Vergleich: Vor drei Monaten waren es noch rund 5.000 auf dem Hochpunkt der vierten Welle, in der auch in einigen Regionen Patienten von Süden und Osten weit weg in den Norden und Westen des Landes verlegt werden mussten.
Was wir derzeit auch als typischen Verlauf der bisher beobachteten Wellen sehen: Omikron ist leider wieder in den vulnerablen Gruppen der Bevölkerung angekommen. In den vergangenen Wochen behandeln wir vor allem hochaltrige Patienten. Die 70- und 80-Jährigen machen derzeit die Hälfte der COVID-Patienten aus.
Belegung Intensivbetten: Omikron versus Delta
Rechtsdepesche: Um welchen Faktor ansteckender ist die Omikron-Variante als Delta? Was sagen Sie zur Gefährlichkeit dieser Variante? Wie wirkt sie sich aus mit welchem Anteil bei den Intensivpatienten?
Marx: Omikron ist deutlich ansteckender als Delta, etwa um den Faktor 2,5 oder mehr. Delta hat zu sehr massiven und schwerwiegenden Verläufen geführt und die Lungen massiv geschädigt. Bei Omikron haben wir das deutlich weniger gesehen und so wurden ja trotz sehr hoher Infektionszahlen zum Glück viel weniger Menschen intensivpflichtig.
Hier spielt aber auch die wirklich optimal verlaufende Booster-Kampagne in Deutschland eine wichtige Rolle. Ohne Impfschutz, da sind sich meine Kollegen und ich uns sicher, hätten wir deutlich mehr Patienten auf den Intensivstationen versorgen müssen. Bei Omikron mussten zwar viele Patienten ins Krankenhaus, aber waren nicht so schwer krank, dass sie auf die Intensivstation behandelt oder gar beatmet werden mussten.
„Wir brauchen Werkzeuge für ein schnelles Eingreifen“
Rechtsdepesche: Wie soll der Bürger verstehen oder nachvollziehen, wenn die Priorisierung der Parameter (Inzidenzen versus Hospitalisierungsrate) sich in der Kommunikation der Politik immer wieder ändert?
Marx: Ich glaube es geht hier weniger um das Verstehen, als um Verständnis oder Vertrauen. Das Virus ist sehr anpassungsfähig. Im Verlauf einer Welle kommt es auf mittlerweile sehr viele Parameter an: Welche Bevölkerungsschichten sind gerade stark betroffen? Wie schwer krank werden sie? Kann die Infrastruktur aufrecht erhalten werden?
Wie hoch ist die Impfquote? Gibt es nur lokale Hotspots? Wie schnell ist die Verbreitung? Gibt es eine dominierende Virusvariante oder mehrere? Entsprechend muss politisch schnell agiert werden. Es kann deshalb unmöglich im Sommer eine Strategie geben, die im Winter immer noch genau so gilt – weil sich zahlreiche Parameter unvorhergesehen verändern.
Es ist für ein erfolgreiches Pandemiemanagement wichtig, Werkzeuge zu haben, die ein schnelles Eingreifen ermöglichen und nicht Wochen oder Monate einen Kurs zu verfolgen, der der Situation nicht mehr angemessen ist.
„Gutes Pandemiemanagement, medizinisch gesehen“
Rechtsdepesche: Kann man nicht dann auch nachvollziehen, dass sich da immer mehr Menschen der Diskussion entziehen über Corona, weil sie die Bemessungsgrundlagen zu verwirrend finden und sie schlicht nicht mehr verstehen?
Marx: Menschlich ist das nachvollziehbar. Aber ich spreche hier als Intensivmediziner: Ich habe die Patienten mit schwersten Verläufen, die zahlreichen Menschen, denen wir nicht mehr helfen konnten, vor Augen – auch natürlich diejenigen, die wir zurück ins Leben bringen konnten, die aber noch Wochen, Monate, vielleicht Jahre benötigen, um sich zu vollständig zu erholen.
Ich bin überzeugt, dass wir in Deutschland in vielen Teilen, medizinisch gesehen, ein sehr gutes Pandemiemanagement erreichen konnten.
„Wir sollten vorsichtig und umsichtig handeln“
Rechtsdepesche: Müsste die Politik nicht mehr Vertrauen verbreiten als Angst und Panik? Gerade vor dem Hintergrund, dass fast ganz Europa Öffnungsschritte wagt.
Marx: Ich finde, dass unsere Politiker sehr ehrlich und offen kommuniziert haben und kommunizieren. Eine Pandemie, ein unbekanntes Virus mit immer neuen Varianten, die wieder Fragen aufwerfen – natürlich ist das bedrohlich.
Aber wir alle leben in einer Welt, in der ständig und überall viele und weitere Informationen zur Verfügung stehen. Was wir uns wann und wie leisten können, ist sicherlich sehr genau abgewogen. Wir alle wünschen uns doch einen Alltag ohne Beschränkungen zurück. Niemand will und wird Einschränkungen länger aufrecht erhalten als nötig.
Aber Corona ist da. Und ist auch nicht ab Tag X einfach verschwunden. Das Virus hat uns doch immer wieder gelehrt, dass wir vorsichtig und umsichtig handeln sollten. Das tun wir.
„Uns fehlt das Personal, vor allem die Pflegekräfte“
Rechtsdepesche: Muss die Anzahl der Intensivbetten langfristig wieder hochgefahren werden – auf eine Zahl wie vor der Pandemie?
Marx: Die Vorstellung ist schön, aber das ist nicht möglich. Niemand hat mutwillig Intensivbetten in der Pandemie abgebaut. Wir können nicht einfach beschließen „Betten hochfahren“ und dann passiert das innerhalb weniger Monate. Nein. Die Betten an sich stehen wie eh und jeh auf den Intensivstationen. Aber wir können darin keine schwerstkranken Patienten behandeln.
Weil uns das Personal fehlt, vor allem die Pflegekräfte. Betten ohne Personal sind gesperrt und nicht betreibbar. Deshalb zum Vergleich: Wir haben gemeinsam mit dem RKI das DIVI-Intensivregister im Verlauf der ersten Corona-Welle aufbauen können, um erstmalig einen Überblick über die Gesamtkapazität der Intensivmedizin in Deutschland zu bekommen.
Ende 2021 hatten wir in der vierten Welle deshalb sehr deutlich vor Augen, dass wir mindestens 4.000 Betten weniger zur Versorgung sämtlicher Intensivpatienten zur Verfügung hatten, als in der zweiten Welle im Winter 2020. Tendenz weiter fallend. Es fehlt also derzeit Personal für das Betreiben von mindestens 4.000 Intensivbetten und mehr in Deutschland. Und natürlich müssen wir das langfristig für die Versorgung der Intensiv- und Notfallpatienten ändern.
„Mehrere Monate sollte netto wie brutto gezahlt werden“
Rechtsdepesche: Wie löst man die Problematik des Personalmangels gerade bei Intensivkräften? Was müsste die Politik dazu unternehmen, was die Wirtschaft?
Marx: Es müssen zahlreiche Maßnahmen ineinander greifen. Wir haben hierzu als DIVI bereits im vergangenen März gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktionsdienste (DGF) eine Stellungnahme zur Zukunft der Intensivpflege mit sehr konkreten Maßnahmenkatalogen veröffentlicht. Hierin sind langfristige Maßnahmen wie aber auch kurzfristige verzeichnet.
Die kurzfristigen müssen und können politisch sofort umgesetzt werden, um vor allem der derzeit noch arbeitenden Personal den Rücken zu stärken, Signale zu setzen und hier nicht noch mehr Personal zu verlieren. Wir würden deshalb gerne hören, dass mehrere Monate netto wie brutto gezahlt wird und generell Dienste, in denen Pflegekräfte einspringen weil Kollegen krank sind, steuerlich befreit werden. Das wäre ein deutliches Signal der Wertschätzung.
Auch müsste sofort für alle Mitarbeiter in den Kliniken ein Versorgungsangebot für die psychosoziale Unterstützung aufgebaut werden. Ärzte, Pflegekräfte, Therapeuten, wir alle erleben in der Klinik Situationen, nach denen man mal reden muss, selbst Hilfe benötigt – um danach eben weiter arbeiten zu können. Solche Angebote gibt es seit Jahren für Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst. Nicht aber in einem Krankenhaus.
Hier hat die Pandemie noch einmal sehr deutlich den Bedarf verdeutlicht. Langfristig muss sich die gesamte Arbeitsorganisation verändern, die Ausbildungskataloge in den Bundesländern vereinheitlicht werden, brauchen wir mehr telemedizinische Netzwerke und eine digitalisierte Patientenakte, wie natürlich auch ein generell besseres Image des Berufes der Intensivpflegekraft, aber auch des Notfallmediziners und Intensivmediziners. Derzeit haben wir Probleme den Nachwuchs für dieses so wichtige medizinische Feld zu begeistern.
Rechtsdepesche: Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Prof. Dr. Gernot Marx ist ein deutscher Intensivmediziner und Universitätsprofessor. Der Facharzt für Anästhesiologie leitet seit 2008 die Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care des Universitätsklinikums Aachen und ist seit Anfang 2021 gewählter Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Er ist durch die COVID-19-Pandemie in Deutschland einer breiten Öffentlichkeit bekannt.