Einleitung
Wird der Blutzuckerhaushalt durch eine Überdosis aus dem Gleichgewicht gebracht, trübt sich das Bewusstsein der Betroffenen über ein Delir bis hin zum hypoglykämisches Koma mit möglichem tödlichem Ausgang, wenn die Stoffwechselentgleisung nicht durch die orale oder intravenöse Gabe von Glucose rechtzeitig aufgefangen wird. Nicht zuletzt deshalb, weil die Insulin-Überdosis in dem – irrigen – Ruf der Nichtnachweisbarkeit steht, sind in der Geschichte der Strafjustiz eine Vielzahl von spektakulären Verfahren zu beobachten.
Am 7. September 2022 entschied der Bundesgerichtshof (BGH) über die strafrechtliche Relevanz der Gabe einer Übermenge an Insulin an zwei hochbetagte, schwer demenzerkrankte Bewohnerinnen einer Demenzstation durch eine Altenpflegehelferin. Eine der beiden litt an Diabetes mellitus Typ II und erhielt zuletzt täglich einmal morgens Langzeitinsulin, das den Blutzuckerspiegel für 24 Stunden reguliert. Die Angeklagte wusste, das die Gabe von Medikamenten und das Verabreichen von Insulin examinierten Pflegekräften vorbehalten und für sie verboten ist. Ebenfalls wusste sie, dass bei akuten beziehungsweise bedrohlichen gesundheitlichen Zuständen der Bewohner ein Notarzt alarmiert wird.
Motiv Arbeitsentlastung
Nachdem die Angeklagte als Mithörerin eines Gesprächs unter Pflegekräften erfuhr, dass „mindestens 20 Einheiten“ für die Herbeiführung des Todes eines Menschen erforderlich seien, fasste sie spontan den Entschluss, beide Tatopfer durch die medizinisch nicht indizierte Verabreichung einer größeren Menge Insulin körperlich so zu schädigen, dass sie in ein Krankenhaus eingeliefert und dort zumindest vorübergehend stationär versorgt werden müssten.
Hiervon versprach sie sich eine Arbeitsentlastung. Der 85-jährigen Geschädigten verabreichte sie während Toilettengängen mit dem Insulin-Pen mindestens 50 Einheiten Humaninsulin und der 80-jährigen Geschädigten mindestens 40 Einheiten Humaninsulin. Nach den Taten führte sie beide auf den Gang und setzte sie auf ein Sofa. Die Angeklagte handelte in dem Wissen, dass das Insulin geeignet war, bei den Frauen eine lebensgefährliche Unterzuckerung zu bewirken, deren Leben zu gefährden und sogar den Tod herbeizuführen. Sie vertraute darauf, dass von dem ständig anwesenden Pflegepersonal ein Notarzt gerufen worden war und, dass beide nicht sterben würden.
Kein Tötungsvorsatz
Als sie am Ende Ihrer Schicht die Station verließ, hatte das Insulin noch keine erkennbare Wirkung gezeigt. Am Nachmittag verfielen beide Frauen in einen Zustand massiver Unterzuckerung mit der Folge von Bewusstlosigkeit bzw. Nichtansprechbarkeit. Aufgrund ihres lebensbedrohlichen Zustands wurden sie in ein Krankenhaus gebracht, wo ihnen hochprozentige Glukoselösungen gegeben wurden. Nach intensivmedizinischer Behandlung stabilisierten sich die Blutzuckerspiegel und beide konnten aus der stationären Behandlung entlassen werden. Bleibende Schäden sind nicht entstanden. Ihr Leben war jedoch konkret gefährdet. Ohne die notärztliche und anschließende stationäre ärztliche Versorgung wären sie mit hoher Wahrscheinlichkeit infolge einer Hypoglykämie verstorben.
Mangels Feststellung des Tötungsvorsatzes hat das Landgericht Würzburg die Angeklagte in erster Instanz wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt.
Die Revision
Dieser Richterspruch hielt in der Revision der Würdigung des BGH stand. Trotz der extrem hohen Gefährlichkeit des Handelns, war die Verneinung des Tötungsvorsatz rechtsfehlerfrei. Das Landgericht hat in die gebotene Beweiswürdigung sämtliche für die Frage, ob die Angeklagte mit Tötungsvorsatz gehandelt hat, wesentlichen Gesichtspunkte eingestellt. Der Fall verdeutlicht die Beschränkung der Überprüfungsmaßstäbe des Revisionsgerichts auf die Feststellungen der Tatsacheninstanzen. Sind dort in der Beweisfeststellung keine Fehler unterlaufen, sind die Revisionsrichter in ihrer Entscheidung gebunden – auch wenn eine andere Gewichtung wahrscheinlich erscheint. Nachzulesen in § 261 StPO (freie richterliche Beweiswürdigung).
FAQ
Wer haftet, wenn eine Pflegekraft unerlaubt Insulin verabreicht?
Pflegekräfte haften strafrechtlich, wenn sie Insulin unerlaubt verabreichen und dadurch Patienten gefährden. Im Fall einer Altenpflegehelferin, die unerlaubt eine Überdosis Insulin verabreichte, wurde sie wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, da die Gabe von Insulin examinierten Pflegekräften vorbehalten ist. Wird dabei kein Tötungsvorsatz nachgewiesen, erfolgt die Verurteilung gemäß § 224 StGB (gefährliche Körperverletzung). Auch wenn der Tod der Patienten in solchen Fällen eintreten könnte, bleibt die Haftung auf Körperverletzung beschränkt, solange kein direkter Tötungsvorsatz nachweisbar ist.
Welche Rechte haben Patienten nach einer gefährlichen Insulingabe?
Patienten, die durch eine fehlerhafte oder unerlaubte Insulingabe gesundheitlich geschädigt wurden, haben das Recht auf Entschädigung und medizinische Behandlung. In Fällen wie der unerlaubten Verabreichung von Insulin durch Pflegekräfte kann eine strafrechtliche Verfolgung wegen Körperverletzung und eine zivilrechtliche Schadensersatzforderung erfolgen. Die betroffenen Patienten können gegen das handelnde Pflegepersonal auf Grundlage des § 823 BGB und gegen die Gesundheitseinrichtung gemäß § 280 BGB Ansprüche geltend machen, insbesondere wenn bleibende Schäden oder lebensgefährliche Zustände entstanden sind.
Was tun, wenn Insulin falsch verabreicht wurde?
Wird Insulin falsch verabreicht, ist unverzüglich ärztliche Hilfe zu alarmieren, da eine Überdosierung schnell zu lebensbedrohlichen Zuständen wie Hypoglykämie führen kann. Pflegekräfte sind verpflichtet, in solchen Fällen sofort einen Notarzt zu rufen, um die Stoffwechselentgleisung durch Glukosegabe zu behandeln. Versäumnisse in der rechtzeitigen Behandlung können rechtliche Konsequenzen für die verantwortliche Pflegeperson nach sich ziehen, insbesondere bei einer Verletzung der Sorgfaltspflichten oder bei nicht autorisierter Medikamentengabe.
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