Auf der vergangenen Winterakademie 2020 hatte die Redaktion der Rechtsdepesche die Gelegenheit, mit Staatssekretär (StS) Andreas Westerfellhaus zu sprechen. Als Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung ist es seine Aufgabe, sich auf politischer Ebene für die Interessen der Pflegebedürftigen einzusetzen. Wie er seine Ideen einbringt, wie er auf die letzten zwei Jahre seiner Amtszeit zurückblickt und welche Themen in Zukunft in der Pflegepolitik angegangen werden – dazu hat ihn die Online-Redaktionsleiterin der Rechtsdepesche, Maren van Lessen, befragt.
Rechtsdepesche: Wie können Sie sich als Staatssekretär, und als Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, in den politischen Willensprozess einbringen, wie binden Sie Ihre Ideen ein? Bzw. können Sie uns einmal beschreiben, welchen Einfluss Sie auf Gesetzesvorhaben haben?
Andreas Westerfellhaus: Die Aufgabe des Pflegebevollmächtigten liegt darin, auf Bundesebene für gute Strukturen einer selbstbestimmten Pflege von Patienten und Patientinnen sowie von Pflegebedürftigen in allen Sektoren zu sorgen – häusliche Pflege, Rehabilitationseinrichtungen, Krankenhäuser usw.. Dazu machen mein Team und ich durch Gespräche mit Betroffenen und Pflegeverbänden zunächst die Schwachstellen und Herausforderungen in den jeweiligen Sektoren aus. Es wird erörtert, wie eine Ausgestaltung dieser Versorgungssicherstellung morgen und übermorgen aussehen kann – bildlich gesprochen. Und darauf basierend entwickeln wir Lösungsvorschläge, die dann in den politischen Meinungsbildungsprozess eingespeist werden. Das heißt, ich rede mit dem Gesundheitsminister sowie mit Abgeordneten, die in dieser Thematik der Pflegepolitik zuständig sind – also der großen Koalition, aber auch der Opposition. Ich versuche, sie für Ideen zu gewinnen und diese in den unterschiedlichen Ausschüssen des Deutschen Bundestages einzubringen. Aber man muss ebenso mit den anderen Ministerien ins Gespräch kommen, wie das Arbeitsministerium oder Familienministerium, die natürlich auch mit der Thematik Pflege zu tun haben.
Vor allen Dingen stimme ich meine Ideen mit Minister Spahn eng ab und diskutiere sie, um auch wahrzunehmen, welche anderen Bereiche man damit tangiert. Die Pläne des Ministeriums zu kennen und diese Prozesse zu berücksichtigen ist wichtig. Sozusagen nach der Devise: Wenn man eine bestimmte Änderung im System plant, macht es dann nicht Sinn, sie zu ergänzen um eine weitere inhaltliche Struktur. Und grundsätzlich leitet mich schon die Idee, in vielen Bereichen wirklich darauf zu achten: Was ist sofort machbar, was ist auch möglicherweise ohne Gesetzesänderung umsetzbar, weil man einfach bestehende Verordnungsverfahren umsetzen kann. Und dann natürlich auch, was sind mittelfristige und was langfristige Ziele, die wir brauchen, um eine sichere Zukunft für morgen zu gestalten.
Der politische Einfluss liegt also immer auf mehreren Seiten. Meine Seite sieht vor, von Herausforderungen zu erfahren, gute Ideen zu entwickeln und natürlich Vorschläge anderer Beteiligter mit diesen ernsthaft zu diskutieren und als Lösungsansatz zu erkennen. Daraus wird nie die reine Lehre herauskommen, sondern da gibt es natürlich viele verschiedene Aspekte und Strukturen zu berücksichtigen. Aber ich muss sagen, es sind jetzt fast zwei Jahre, dass diese Kommunikation und dieser Prozess zunehmend besser funktionieren. Einerseits weil natürlich der Druck im System sehr hoch ist, andererseits weil auch meine Bereitschaft durchaus gewürdigt wird, sich mit starken Positionen in politische Prozesse einzubringen.
Rechtsdepesche: Was würden Sie sagen, sind konkrete Erfolge aus den letzten zwei Jahren ihrer Amtszeit?
Westerfellhaus: „Erfolge“ ist natürlich immer etwas schwierig zu sagen. Nach meiner Definition heißt Erfolg immer: Da ist was fertig, das kann man angucken. Erfolg liegt oft schon darin, bestimmte Prozesse in Gang gesetzt zu haben. Um das nur mal an einem Beispiel zu sehen: Wir hatten jahrelang ein E‑Health-Gesetz, das die digitale Kommunikation auf Ärzte und Apotheker beschränkt hat. Es ist jetzt gelungen, im ersten und dem aktuell vorliegenden zweiten Digitalisierungsgesetz endlich auch die Pflege ans sichere Netz anzubinden und Pflegekräften Zugriff auf die elektronische Patientenakte sowie Verordnungen zu verschaffen. Was noch fehlt ist die elektronische Abrechnung, dazu bin ich bereits mit Minister Spahn im Gespräch.
Ich finde, es ist ein Erfolg, dass man über eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, wie ich sie in der Konzertierten Aktion Pflege vorgeschlagen habe, unter den in der Pflege Arbeitenden anders nachdenkt als vor zwei Jahren. Dass man sagt: Wir sind bereit, bestimmte Modelle und Prozesse in Gang zu setzen, zum Beispiel aus meinen Instrumentenkoffer zur Verbesserung der Arbeit in kleinen mittelständischen Unternehmen. Und ich glaube, mit aller Bescheidenheit darf man es als Erfolg bezeichnen, dass das Vertrauen in eine Pflegepolitik sich wieder positiver entwickelt, und zwar aus allen Richtungen. Also aus Sicht der Verbände, aber auch der Betroffenen, gerade der pflegenden Angehörigen, die sagen: Die Vorschläge, die jetzt kommen, sind wirklich ein guter Ansatz. Ich habe ja kürzlich verbesserte Löhne bei Pflegediensten, einen Pflege-Ko-Piloten für eine bessere Beratung sowie ein Entlastungsbudget vorgeschlagen, damit der Zugang zu Pflegeversicherungsleistungen, die den Menschen zustehen, einfacher, unbürokratischer, schneller und flexibler wird. Viele Prozesse, die man in Gang setzt, dauern lange, weil man natürlich viel Überzeugungsarbeit braucht, weil es meistens keine einfachen Lösungen sind, weil sie immer viele, viele andere Bereiche und Interessen tangieren. Wichtig ist, dran zu bleiben, denn nur ein steter Tropfen höhlt den Stein.
Rechtsdepesche: Unter anderem ist geplant, mittels einer Rückholaktion Pflegekräfte, die bereits aus der Pflege ausgestiegen sind, in die Pflege zurückzuholen. Durch welche Maßnahmen wird das gelingen?
Westerfellhaus: Die Basis für die Idee einer Rückholaktion war die Frage, ob es uns nicht gelingt, diejenigen, die den Beruf verlassen, aber die Ausbildung absolviert haben, zurückzuholen in den Pflegeberuf. Und wir wissen ja aus Studien, dass eine berufliche Tätigkeit in ganz anderen Sektoren letztendlich auch nicht immer der goldene Griff ist. Und hinter dem Berufswechsel stand meistens die Erkenntnis, dass die Rahmenbedingungen in der Pflege nicht mehr zu ertragen sind, wie sie jetzt gerade sind.
Da muss man natürlich mal analysieren: Was ist das, was die Arbeitsbedingungen so unerträglich macht? Und das ist einfach der Personalmangel, der sich immer weiter im Kreis dreht durch noch mehr Personal, das die Pflege verlässt. Die Frage ist also, wie man die Spirale stoppen und umdrehen kann. Also etwa durch fixe Personalschlüssel, die es wieder möglich machen, das Herausholen aus dem Frei, aus dem Urlaub, aus den Erholungsphasen, massiv zu reduzieren.
Wir müssen wieder zu Arbeitsbedingungen kommen, die es Pflegekräften ermöglichen, das zu tun, was sie gelernt haben. Viele beklagen, dass sie in einem sehr arztzentrierten System zwar sehr gut qualifiziert sind, aber ihre Tätigkeiten nicht autonom durchführen können, etwa im Bereich der Versorgung chronischer Wunden. Auch das macht ja unzufrieden, weil man dann von Delegationsstrukturen abhängig ist und genau weiß, dass die Kompetenz dafür eigentlich bei einem selbst liegt. Das hat auch etwas mit zur Verfügung stehenden Instrumenten zu tun, die Entlastung bringen, wie die Digitalisierung. Wie kann sie genutzt werden, damit tatsächlich mehr Zeit für die Durchführung der Pflege vorhanden ist. Wie gelingt es, wieder mehr Entscheidungshoheit auch in die Kompetenz von Pflegenden in Zusammenhang mit der Kommunikation mit Angehörigen und Patienten zu legen, wie beispielsweise in einem System wie Buurtzorg.
Als Pflegekraft muss ich wieder merken können, wofür ich eigentlich in diesen Beruf gegangen bin. Am Ende hat das natürlich auch etwas mit einer besseren tariflichen Entlohnung zu tun. Es ist ja nicht so, dass die Ausbildung in ihren Vergütungen schlecht ist. Durch das neue Pflegeberufegesetz ist es Gott sei Dank so, dass man auch in der Altenpflegeausbildung kein Schulgeld mehr zahlen muss. Das war eigentlich unerträglich, bereits in der Vergangenheit. Die Ausbildungsvergütungen sind tariflich, finde ich, ein faires Angebot. Aber dem muss die tarifliche Entlohnung dann auch hinterher Schritt halten. Wir müssen diese Verwerfung aufheben zwischen der Bezahlung von Menschen, die in der geriatrischen Versorgung, in der stationären Langzeitpflege, in der Häuslichkeit, in den Reha-Einrichtungen und in den Krankenhäusern arbeiten. Da gibt es ja doch erhebliche Gehaltssprünge.
Wir müssen mit den Tarifpartnern dafür sorgen, dass sich Fort- und Weiterbildung lohnt. Wer Praxisanleiter wird, der muss auch einen ordentlichen Aufschlag erhalten. Und wer Verantwortung übernimmt eben auch. Es darf nicht sein, dass jemand sagen muss: Ich arbeite gerne in der Altenpflege, aber ich kann mir eine Tätigkeit in der Altenpflege in anderen Ballungszentren nicht leisten, weil ich meine Miete davon gar nicht zahlen kann. Und das zeigt alleine, dass es ohne eine wirklich erhebliche Verbesserung der Einkommenssituation nicht geht.
Rechtsdepesche: Auf der Fortbildungsveranstaltung der Winterakademie 2020 haben wir einige interessante Vorträge gehört, unter anderem zu den Themen Digitalisierung, Smart Living und Buurtzorg. Anknüpfend zum Thema Digitalisierung in der Pflege: Hier gibt es viele gute Ideen und Neuerungen, die aber noch nicht etabliert sind, woran liegt das?
Westerfellhaus: Ja, das sind ganz große Entwicklungen, vor denen wir stehen. Diese Gespräche werden geführt. Digitalisierung als Entlastung auch für Menschen, die dadurch länger selbstbestimmt zuhause bleiben können, werden an Fahrt aufnehmen, da bin sicher. Aber das braucht natürlich auch immer Druck aus Sicht der Nutzer, der Versicherten und derjenigen, die es dann anwenden. Und dann muss es letztlich durch Politik gestützt werden, diese Strukturen herbeizuführen. Das sind Dinge, die auf der Agenda stehen, und Agenda heißt nicht irgendwann mal in fünf Jahren, sondern diese Gespräche führen wir permanent. Dabei fragen wir uns stets, wie wir die Versorgung verbessern können, aber das passiert natürlich am besten dadurch, dass Hinweise von denjenigen gegeben werden, die tagtäglich damit zu tun haben. Die Anforderungen sind vielfältig. Hier gibt es eine hohe Erwartungshaltung, aber auch durchaus Lösungsmöglichkeiten. Am Ende des Tages müssen alle Beteiligten wollen. das alles hat keinen Selbstzweck, sondern dient einer sicheren Versorgung der pflegebedürftigen Menschen.
Rechtsdepesche: Auch über Buurtzorg, ein Erfolgsmodell für die ambulante Pflege aus den Niederlanden, wurde auf der Winterakademie gesprochen. Es ist mittlerweile in aller Munde. Wie stehen Sie zu diesem Modell?
Westerfellhaus: Ich bedauere manchmal, dass wir so viele gute Modellprojekte in Deutschland haben, sie auch abschließen, sie bekannt machen, und wir dann so schwer eine Vernetzung hinkriegen über den Kenntnisstand. Etwa, wenn es darum geht, dass es so etwas in Bayern gibt, in Schleswig-Holstein und wie wir es beispielsweise nach Thüringen oder ins Saarland bringen wollen. Modelle müssen sichtbar gemacht werden.
Und ganz konkret zu Buurtzorg: da muss ich sagen, es ist ein Stück weit Utopie zu glauben, dass es das Modell für ganz Deutschland sei. Das hat ja auch ganz unterschiedliche Strukturen. Aber für mich ist es einer der Beispiele, wie man auf der einen Seite Berufszufriedenheit bei den Ausübenden und auf der anderen Seite Qualitätssteigerung hinbekommen kann. Und ich finde, Modellprojekte dienen ja dazu, sich zu multiplizieren und daraus in einem Prozess Dinge weiterzuentwickeln. Das heißt ja nicht, dass Buurtzorg immer so bleibt, wie es heute ist. Aber es löst in Deutschland meiner Wahrnehmung nach erheblich viele positive Diskussionen aus; darüber nachzudenken, sich auf einen solchen Weg zu machen, alte Strukturen nochmal kritisch zu hinterfragen, und ob es eigentlich Gott befohlen ist, dass wir in diesen Strukturen arbeiten. Man muss erkennen, dass mit den Instrumenten der letzten Jahrzehnte die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte nicht zu bewältigen sind. Was Buurtzorg noch beweist: nicht klagen, sondern machen. Loslegen, Widerstände als Herausforderung sehen, in die Pilotisierung und wissenschaftliche Evaluationgehen. Am Ende muss man aufpassen, dass innovative Ansätze nach erfolgreicher Erprobung in die Regelversorgung übertragen werden und nicht irgendwo in Schubladen verschwinden.
Rechtsdepesche: Abschließend: Welche großen Themen stehen nun in Zukunft auf der Agenda für Sie?
Westerfellhaus: Es sind die großen Herausforderungen, die wir in der Konstituierten Aktion Pflege angesprochen haben. Das ist der Fachkräftemangel, das ist die Neujustierung der Zusammenarbeit der Gesundheitsfachberufe, den Strategieprozess haben wir ja jetzt gerade begonnen. Dann müssen wir pflegenden Angehörigen mehr Sicherheit geben, durch meinen Vorschlag eines Ko-Piloten in der Regelversorgung. Den Leistungsdschungel auflösen, durch die von mir vorgeschlagenen zwei Budgets, um Leistungen zugänglicher und flexibler zu machen – das kann man mit dem Ko-Piloten dann übrigens hervorragend verknüpfen. Außerdem werden wir uns mit den Herausforderungen beschäftigen, die uns im Rahmen Ausbildung durch das Pflegeberufegesetz bevorstehen. Wir haben das Gesetz zwar verabschiedet, aber wir werden merken, dass hier noch einiges zu tun ist in Sachen wirklicher Etablierung und Stützung der akademischen Primärqualifizierung in Deutschland. Die Aufgabenverteilung in der Pflege wird Thema sein sowie die Digitalisierung. Dabei gilt es auch, die Vernetzung der Gesundheitsberufe – Ärzte, Therapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden usw. – voranzutreiben. Und dann nochmals: Bildung, Bildung, Bildung steht auf der Agenda.
Rechtsdepesche: Vielen Dank für das Interview, Herr Westerfellhaus.
Das Interview wurde am 30.1.2020 aufgezeichnet.