Herr Dr. Jan Basche ist Geschäftsführer mehrerer ambulanter Pflegedienste und pflegepolitisch stark engagiert. Herr Michael Schanz, Chefredakteur der gesundheitsrechtlichen Fachzeitschrift „Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen“, hat sich mit ihm getroffen und den fachkundigen Pflegeexperten zum Thema Professionalisierung und Akademisierung der Pflege in Deutschland im Vergleich zum europäischen Ausland befragt.
Rechtsdepesche: Herr Dr. Basche, offenbar ist der Pflege in Deutschland die Freude an der Arbeit abhanden gekommen. Sie waren gerade mit mehreren Ihrer Mitarbeiterinnen und vielen anderen Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet Teilnehmer der jährlichen Winterakademie auf Gran Canaria. Dabei haben Sie auch ein Gesundheitszentrum im Inselinneren besucht. Wie ist sie denn, die Pflege im Ausland?
Dr. Jan Basche: Pflege im Ausland ist ein verführerisches Thema. Da denkt man an Arbeiten unter Palmen, an Krankenschwestern auf dem Traumschiff oder an Albert Schweitzer unter der Sonne Afrikas. Tatsächlich waren meine Mitarbeiterinnen begeistert vom Ausflug aus den Tagungsräumen der Winterakademie hinauf in die Berge, und das nicht nur wegen der wunderschönen Landschaft um Tejeda zur Mandelblüte, wenn es in Deutschland noch kalt und dunkel ist. Der Besuch in dem Gesundheitszentrum dort hat uns auch alle nachdenklich gemacht. Er war nämlich wieder ein Beweis dafür, wie wenig entwickelt im Vergleich mit dem europäischen Ausland das Berufsbild der professionell Pflegenden in Deutschland immer noch ist.
Rechtsdepesche: Was genau ist in Spanien anders als in Deutschland?
Basche: Die Profession Pflege darf mehr selbst entscheiden. Dieser Unterschied ist es, der bei Arbeitsmigranten nach ihrer Ankunft in Deutschland fast zwangsläufig zu einem bösen Erwachen aus allen Träumen führt. Ich erinnere, und das wirklich ohne Schadenfreude, an die Enttäuschung, die sich bei vielen großen Kliniken und Konzernen der stationären Langzeitpflege eingestellt hatte, als deshalb die ersten spanischen Pflegefachkräfte schon nach kurzer Zeit wieder in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Ich erinnere auch immer wieder daran, dass das eben nicht nur am schlechten Wetter und schlechten Essen und den so seltsam zugeknöpften Menschen in Deutschland lag. Es lag vielmehr vor allem daran, dass die Kolleginnen aus Spanien schockiert waren darüber, wie wenig sie hier selbstbestimmt arbeiten dürfen, wie vollständig jedenfalls in der Behandlungspflege alle wesentlichen Fragen von Ärzten beantwortet werden und nicht von ihnen. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert.
Rechtsdepesche: Wirklich gar nichts?
Basche: Nein, wirklich gar nichts. Es ist zum Verzweifeln. Bei diesem Thema herrscht Stillstand. Dabei betrifft das nicht nur spanische Pflegefachkräfte. Auch die Kolleginnen aus Bulgarien oder Rumänien sind ein anderes Arbeiten gewöhnt und fühlen sich beim Pflegen in Deutschland immer noch viel zu oft wie in einer Waschstraße.
Rechtsdepesche: Und daran ändert selbst das neue Pflegeberufegesetz nichts?
Basche: Nein. Das Gesetz definiert zwar zum ersten Mal Vorbehaltsaufgaben für Pflegefachkräfte, also Tätigkeiten, die nur sie durchführen dürfen. Da ist in § 4 PflBG endlich professionelle Exklusivität geschaffen worden. Aber was umfassen diese Aufgaben? Die Erhebung des Pflegebedarfs und die Steuerung des Pflegeprozesses, also Assessment, Planung, Evaluation etc. Und finden diese Vorbehaltsaufgaben dort die notwendige Anerkennung, wo es im wahrsten Sinne des Wortes um die Wurst geht, nämlich bei der Vergütung? Nein! Den Pflegefachkräften bleiben nach dem Gesetz nur Tätigkeiten vorbehalten, die nicht vergütet werden.
Und wo wir in Deutschland wirklich einen Meilenschritt nach vorn brauchen, nämlich bei der Erweiterung der pflegerischen Aufgaben um heilkundliche Tätigkeiten, verweist der § 14 des Pflegeberufegesetzes nur wieder auf den § 63 Absatz 3c SGB V, der seit Jahren im Permafrostboden der gesundheitspolitischen Ignoranz begraben liegt. Dabei kenne ich keine Pflegefachkraft, die nicht bereit wäre, eine Zusatzqualifizierung zu durchlaufen, wenn sie anschließend mehr selbst entscheiden dürfte. Da ist wieder eine wichtige Gelegenheit zum Umsteuern verpasst worden. So wird das nichts.
Rechtsdepesche: Und das ist in anderen Ländern anders?
Basche: Allerdings. Gerade eben ist zu diesem Thema ein lesenswertes Buch der Stiftung Münch erschienen.
Rechtsdepesche: Wie heißt das Buch?
Basche: „Pflege in anderen Ländern“, erschienen im Verlag medhochzwei. Es ist eine echte Bereicherung der Diskussion über die Zukunft der Pflege und zeigt am Beispiel mehrerer Länder, unter anderem Schwedens, Großbritanniens und der Niederlande, wie die Pflege anders als in Deutschland organisiert werden kann.
Rechtsdepesche: Was sind die wesentlichen Unterschiede?
Basche: Zum Beispiel die Zugangsvoraussetzungen. Wer in diesen Ländern Pflegefachkraft werden will, braucht fast ausnahmslos Abiturniveau. Allerdings ist das nun gerade eine Entscheidung, die wir in Deutschland nicht wiederholen sollten.
Rechtsdepesche: Warum nicht? Sind Sie gegen die Akademisierung der Pflege?
Basche: Sie wissen schon, wie man einen Shitstorm provoziert? Genau so! Trotzdem: Ich bin gegen die Akademisierung der Pflege, solange sie ein Fetisch bleibt. Auch darauf antworte ich immer wieder gleich: Wo sollen all die künftigen Akademikerinnen und Akademiker arbeiten? Wenn sie ernsthaft Tag und Nacht Pflegebedarfe erheben oder die Ergebnisqualität im Pflegeprozess evaluieren sollen: Wer bezahlt dann aus welchem Umsatz ihre Gehälter? Eine Vorbehaltsvergütung der Vorbehaltsaufgaben ist bisher nicht vorgesehen.
Rechtsdepesche: Liegt es nur am Geld?
Basche: Das Geld fällt ja nicht vom Himmel. Hier wird ein Angebot geschaffen, für das es noch gar keine Nachfrage gibt, und damit sind neue Enttäuschungen vorprogrammiert. Die Akademisierung trägt unbestritten zu einer sichereren und effektiveren Versorgung bei. Dazu liegen inzwischen ausreichend valide Forschungsergebnisse vor. Sie ist aber für die Pflegepraxis erst dann wirklich sinnvoll, wenn zeitgleich für die professionell Pflegenden auch Kompetenzspektren eröffnet werden, die ihr Qualifikationsniveau rechtfertigen. Das ist bis heute nicht der Fall. Da wird wieder einmal der zweite Schritt vor dem ersten gegangen. Leider scheint das Mode zu werden in der deutschen Pflegepolitik.
Wir haben das gerade erst erlebt, als mit der Einführung der Pflegegrade eine Nachfrage geschaffen wurde, für die es kein Angebot gab. Pflegebedürftige hatten plötzlich teils doppelt so hohe Sachleistungsansprüche aus der Pflegeversicherung, aber es gab keine einzige Pflegekraft mehr als zuvor, weil man vergessen hatte, auch für deren Ansprüche Geld in die Hand zu nehmen.
Deshalb helfen akademische Niveaus der Qualifizierung ohne akademische Niveaus auch der Leistungsinhalte und ihrer Vergütung weder den Pflegekräften noch den Pflegebedürftigen. Und da gibt es noch einen weiteren Punkt: Wir dürfen unter keinen Umständen auf die berufsbegleitende Ausbildung verzichten. Kolleginnen und Kollegen, die als bereits berufserfahrene Helfer ihre Ausbildung beginnen, also wissen, was Pflege wirklich bedeutet, brechen die Ausbildung signifikant weniger häufig ab als junge Leute, die direkt von der Schule in die Pflege wechseln.
Wir brauchen diese Helfer dringend, um eine Chance im Kampf gegen den Fachkräftemangel zu haben. Wir haben es nämlich nicht nur mit einem steigenden Bedarf an Qualität in der Pflege zu tun, sondern ebenso mit dem mindestens gleichwertigen Bedarf an Quantität der Pflegekräfte. Darauf ist die Akademisierung allein keine Antwort. Die Förderung der berufsbegleitenden Ausbildung erhält aber derzeit nicht im Ansatz die Priorität, die sie verdient.
Rechtsdepesche: Das ist ein klares Plädoyer für niedrige Zugangsschwellen in den Pflegeberuf und gegen eine Akademisierung, die ihre Versprechen nicht halten kann. Vielen Dank für das Gespräch!
Basche: Ich danke Ihnen.