Bei der vom 21. April bis 2. Mai durchgeführten Onlinebefragung unter 1.000 häuslich Pflegenden in Deutschland, erklärte lediglich ein Fünftel der Teilnehmer „stark oder sehr stark“ besorgt zu sein, sich selbst mit COVID-19 anzustecken. Doppelt so viele (40 Prozent) machen sich aber Sorgen um die Ansteckung der pflegebedürftigen Person. Dabei lässt die Sorge mit zunehmendem Alter offenbar stark nach.
Fast ein Drittel der pflegenden Angehörigen gibt an, die Bedingungen hätten sich für sie verschlechtert. Eine andere Zahl wurde in der bisherigen Medienberichterstattung über die Studie jedoch selten genannt: 79 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre persönliche Pflegesituation trotz COVID-19 gut sei, 18 Prozent empfinden sie sogar als sehr gut.
Das bedeutet jedoch nicht, dass alles glatt läuft: Mit dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes haben 38 Prozent Probleme. Den Kontakt zur pflegebedürftigen Person auf Telefonie oder Videotelefonie zu verlagern, empfinden 43 Prozent als schwierig. Fast die Hälfte berichtet, dass es in der Praxis kaum möglich sei, sich nicht ins Gesicht zu fassen. Positiv: Mit der Handhygiene kommen über 90 Prozent gut zurecht und die ganz überwiegende Mehrheit hat auch kein Problem damit, sich über die aktuellen offiziellen Handlungsempfehlungen in Bezug auf COVID-19 zu informieren.
Häusliche Pflege: Hilfsangebote brechen weg
Interessante Einblicke liefert die Untersuchung in die tägliche Praxis der häuslichen Pflege in Coronavirus-Zeiten. Rund zwei Drittel sagen, die Unterstützung durch andere Gesundheitsdienstleister habe während der Pandemie „ganz aufgehört“ (39 Prozent) oder „abgenommen“ (26 Prozent). Besonders drastisch erwies sich dabei das komplette Wegbrechen der Tagespflege in 81 Prozent der Fälle, während die Unterstützung durch Nachbarn bei 43 Prozent aufhörte oder abnahm. Hilfe von Freunden und Familienangehörigen kam bei 31 Prozent seltener vor, die Rolle des Hausarztes nahm bei 30 Prozent ab. Ambulante Dienste stellten bei immerhin 7 Prozent der Befragten ihre Hilfsangebote ein oder wurden aus Infektionsschutz-Erwägungen nicht mehr eingesetzt. Insgesamt wird sonst fast die Hälfte der Studienteilnehmer von ambulanten Diensten mit betreut.
Angesichts dieser erschwerten Bedingungen wundert es wenig, dass Gefühle der Hilflosigkeit (29 Prozent), emotional belastende Konflikte (24 Prozent), Verzweiflungsgefühle (22 Prozent) sowie Gefühle von Wut und Ärger (20 Prozent) zugenommen haben. Die Autoren der Studie sehen hier auch die Gefahr von weiteren gesundheitliche Risiken für Pflegebedürftige und Pflegende im untersuchten Setting. Insbesondere könnte es eine Zunahme von Aggression und möglicherweise Gewalthandlungen geben. Ein Thema, über das die Rechtsdepesche kürzlich erst berichtete.
Als Berufstätiger Angehörige pflegen?
Einen besonderen Fokus haben das ZQP und die Charité auf die Untersuchung der Vereinbarkeit von Beruf und häuslicher Pflege gelegt. Fast die Hälfte (45 Prozent) der erwerbstätigen pflegenden Angehörigen gibt an, dass die Pandemie-Situation dies für sie noch schwieriger gemacht habe. Davon wiederum kümmern sich 27 Prozent nun intensiver um ihre Angehörigen. Unter anderem weil sie im Home-Office sind (28 Prozent), ihre Arbeitszeit reduziert (7 Prozent) oder Urlaub genommen haben.
Allerdings gibt es für das verstärkte Engagement auch weniger positive Gründe: So geben 18 Prozent an, von ihren Arbeitgebern in Kurzarbeit geschickt worden zu sein. Ein interessantes Ergebnis: Niemand unter den Befragten hat den gesetzlichen Anspruch auf eine zehntägige berufliche Auszeit zum Managen einer akuten Pflegesituation genutzt. Möglicherweise auf Druck ihrer Arbeitgeber?
Die beruflice Zukunft bereit einigen Sorge
Sorgen um ihre berufliche Zukunft machen sich jedenfalls 13 Prozent der Befragten. Ein Wert der zunächst sehr niedrig zu sein scheint, bevor man dies nach Einkommensgruppen aufschlüsselt. Immerhin ein Fünftel der Befragten mit einem monatlichen Bruttoeinkommen unter 2.000 Euro geben an, sich wegen der Corona-Situation starke Sorgen um ihre berufliche Zukunft zu machen. „Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu erreichen, ist ein zentrales gesellschaftliches Ziel in Deutschland. Die Erkenntnisse unserer Arbeitsgruppe unterstreichen, dass dieses Ziel auch in Krisenzeiten nicht aus dem Auge verloren werden darf“, so Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité-Universitätsmedizin Berlin.
Für Sorge in der Politik dürften vor allem diese Zahlen sorgen: 25 Prozent der Befragten fühlen sich überfordert mit der Pflegesituation und 23 Prozent haben Angst davor, die häusliche Pflege nicht mehr zu schaffen. Drei Viertel der Pflege in Deutschland findet im eigenen Heim statt. Da die Pflegeheime schon jetzt mit Kapazitätsengpässen und Personalnot zu kämpfen haben, würde jeder Rückgang der häuslichen Pflege unmittelbare Auswirkungen auf die Pflegequalität insgesamt haben.
Inwieweit sich die häusliche Pflege von Demenzpatienten durch COVID-19 geändert hat, beleuchten wir im zweiten Teil dieses Artikels.
Demenz belastet emotionale Bindung bei häuslicher Pflege
Viele der folgenschweren Ergebnisse des Forschungsprojektes von ZQP und Charite zeigen sich in verschärfter Weise bei der Betreuung von Demenzpatienten. Hier sagen 41 Prozent der pflegenden Angehörigen, die Situation habe sich „eher/stark verschlechtert”. Mehr als ein Drittel (35 Prozent) dieser Angehörigen sind besorgt, in Folge der Coronapandemie die häuslichen Pflegeaufgaben nicht mehr bewältigen zu können. Aufgrund der typischen Krankheitssymptome fällt es 32 Prozent schwer, den Betroffenen die coronabedingte Situation zu erklären. Wohl auch deshalb berichten ebenso viele, dass sie einen herzlichen körperlichen Kontakt mit ihren Angehörigen nicht oder nur schwer vermeiden können.
Studienteilnehmer, die Menschen mit festgestellter Demenz pflegen, berichten öfter von einer Zunahme belastender Gefühle als die übrigen Befragten. Am größten sind die Unterschiede bei Verzweiflung (32 Prozent gegenüber 18 Prozent berichten von einer Zunahme) und Hilflosigkeit (39 Prozent gegenüber 26 Prozent). Aber auch Wut und Ärger (27 Prozent gegenüber 17 Prozent) sowie emotional belastende Konflikte (30 Prozent) treten bei der häuslichen Pflege dementer Menschen wesentlich häufiger auf.
Statistisch signifikant und alarmierend sind auch die höheren Werte bei Aussagen wie „Die aktuelle Pflegesituation überfordert mich“ (34 Prozent, 14 Prozent Differenz), „Die aktuelle Pflegesituation überfordert meinen pflegebedürftigen Angehörigen“ (38 Prozent, 9 Prozent Differenz) sowie ”Es kommt für mich zu Mehrbelastungen, weil Dienstleistungen und Hilfestrukturen im nahen Wohnumfeld wegfallen“ (49 Prozent, 13 Prozent Differenz).
„Angehörige, die einen Menschen mit Demenz versorgen, sind in der Corona-Situation potenziell besonders belastet”, erklärt Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey von der Charité-Universitätsmedizin Berlin: „Denn für Menschen mit Demenz ist es unter anderem wichtig, dass ihre gewohnten Routinen erhalten bleiben. Veränderungen und Stress, die nun gerade vermehrt auftreten, wirken sich nachteilig aus.” Auch hätten die Betroffenen teilweise erheblichen Bewegungsdrang und verstünden die Pandemie-Regeln oft nicht, wird in der Pressemitteilung erläutert.
Methodik und Durchführung des Forschungsprojektes
Für die Studie wurden 1.000 Menschen befragt, die seit mindestens sechs Monaten ältere (60+) Angehörige pflegen und selbst über 40 Jahre alt sind. Die Stichprobe erfolgte aus einem Offline-Panel mit 80.000 Personen, die nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand nachgewichtet wurde, um sie möglichst repräsentativ zu halten.
Wissenschaftlich wurde die Studie von Simon Eggert und Dr. Christian Teubner (Zentrum für Qualität in der Pflege, ZQP) durchgeführt bzw. betreut, sowie von Charite-Seite von Dr. Andrea Budnick, Prof. Dr. Paul Gellert und Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, der Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft am Berliner Universitätsklinikum.