Eine vermeintlich notwendige Operation
Der Patient bemerkte seit einigen Monaten immer wieder, dass er insbesondere abends Doppelbilder wahrnahm, wobei das rechte Auge näher abbildete als das linke Auge. Da ihn dies zunehmend störte, suchte er einen Augenarzt auf. Dieser diagnostizierte eine epiretinale Gliose des rechten Auges (Zellen lagern sich auf der Netzhautoberfläche ab und bilden dort eine Membran) und riet zur OP. Nach der OP nahm der Patient weiterhin Doppelbilder mit Bildgrößenunterschieden wahr. Zusätzlich kam es postoperativ zu einer ausgeprägten Sicca-Symptomatik (sogenanntes trockenes Auge) sowie einem Verzerrtsehen.
Der Sachverhalt wurde bei der örtlich zuständigen Schlichtungsstelle medizinisch überprüft. Der Gutachter stellte fest, dass der Patient ausweislich der gefertigten OCT-Aufnahmen tatsächlich rechtsseitig eine epiretinale Gliose hatte. Fraglich war aber, ob die beschriebenen Beschwerden durch diese auch wirklich verursacht wurden.
Der vom Patienten beschriebene Bildgrößenunterschied war durch die Netzhautveränderung erklärbar. Anders aber sah es nach Auffassung des Gutachters bei der Wahrnehmung der Doppelbilder aus. Binokulare Doppelbilder können zwar auch durch eine Netzhautveränderung entstehen, würden aber mit einer deutlichen Sehschärfenreduktion und einem Verzerrtsehen einhergehen. Bei dem Patienten lag jedoch nur ein leichtes monokulares Verzerrtsehen ohne Sehstärkenreduktion vor. Insofern hätten auch andere Ursachen differentialdiagnostisch in Betracht gezogen werden müssen, so vor allem ein Brechtkraftunterschied beider Augen, eine Trübung der optischen Medien sowie eine Schielstellung. Die beiden erstgenannten möglichen Ursachen lagen bei dem Patienten eindeutig nicht vor. Eine mögliche Schielstellung ist jedoch nicht untersucht worden. Postoperativ wurde eine solche dann aber festgestellt.
Der Gutachter hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass durch die epiretinale Gliose die zuvor kompensierte Schielstellung dekompensiert wurde. Präoperativ hätte der Augenarzt eine mögliche Schielstellung des rechten Auges abklären und sodann zunächst einen konservativen Behandlungsversuch mittels Prismenfolien durchführen müssen. Gegebenenfalls hätte dies bereits die Probleme des Patienten beseitigt. Es hätte also nicht zwingend eine Operation durchgeführt werden müssen, wobei man dies allerdings ex post nicht mehr klären kann.
Befunderhebungsfehler zu Lasten des Augenarztes
Der Augenarzt hätte präoperativ eine strabologische Ursache der Symptome ausschließen müssen. Insofern liegt rechtlich ein Fall des sogenannten Befunderhebungsfehlers vor. Dieser wird nicht zu Unrecht von Rechtsanwälten, die Ärzte vertreten, gefürchtet, denn ein solcher kann potentiell zur Beweislastumkehr führen. Der Arzt muss in diesem Fall also beweisen, dass der Fehler nicht kausal für den Schaden geworden ist.
Bei der Unterlassung einer Befunderhebung kommt es zur Beweislastumkehr, wenn:
- bei Erhebung der gebotenen Befunde ein positives Befundergebnis hinreichend wahrscheinlich (also größer als 50 %) gewesen wäre,
- der Befund so deutlich und gravierend gewesen wäre, dass dessen Verkennung als fundamental zu werten wäre und
- der Kausalzusammenhang zwischen dem Fehler und dem Schaden nicht „äußerst unwahrscheinlich“ (geringer als 10 %) ist.
Bezogen auf den vorliegenden Fall muss man feststellen, dass bei Erhebung der strabologischen Befunde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Schielstellung des rechten Auges festgestellt worden wäre. Dieser Befund wäre auch so deutlich gewesen, dass dessen Verkennung als fundamental zu werten gewesen wäre. Möglicherweise wäre ihm sodann die OP erspart geblieben. Dass dies nicht abschließend geklärt werden konnte, geht demzufolge zulasten des Augenarztes.
Dem Patienten mussten aufgrund des Befunderhebungsfehlers zum einen Schmerzensgeld für die eventuell unnötige OP und die damit einhergehenden Folgen – die stark ausgeprägte Sicca-Symptomatik, die länger andauernde Rekonvaleszenz und die erst zu einem späteren Zeitpunkt mittels Prismenbrillen behandelbare Schielstellung – gezahlt werden. Hinzu kamen Heilbehandlungskosten, die der Patient zum Teil selbst zahlen musste, sowie ein geringfügiger Haushaltsführungsschaden für die postoperative Phase.
Haftungsrechtliche Konsequenzen für den Arzt
Dieser Fall zeigt, welche Bedeutung einer korrekten und abschließenden Befunderhebung zukommt. Dies gilt umso mehr, wenn die Möglichkeit einer konservativen Behandlung in Betracht kommt und dem Patienten der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit erspart werden kann. Der operative Eingriff – wenn auch nicht indiziert – verlief in diesem Fall komplikationsfrei. Wären aber folgenreiche Komplikationen entstanden, hätte der Arzt hierfür haftungsrechtlich in vollem Umfang einstehen müssen.
Quelle: Rechtsanwältin Isabel A. Ibach, HDI Versicherung AG, Köln