Auf rund 2,7 Millionen Wundpatienten kommen ab 1. Juli 2019 möglicherweise einschneidende Veränderungen hinsichtlich ihrer Verbandmittelversorgung zu. Besonders betroffen sind etwa 900.000 Patientinnen und Patienten mit chronischen Wunden[1][2]. Denn der Entwurf des Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) sieht vor, den Verbandmittelbegriff im § 31 Absatz 1a Satz 2 SGB V neu zu definieren: „Die Eigenschaft als Verbandmittel entfällt nicht, wenn ein Gegenstand ergänzend weitere Wirkungen entfaltet, die ohne pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkungsweise im menschlichen Körper der Wundheilung dienen, […].“[3] Bis zu 3.000 Verbandmittel mit aktiven Wirkkomponenten fielen nicht mehr unter diese Definition und damit aus der Erstattungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).[1]
Ulcus cruris – ein Fallbeispiel moderner Wundversorgung heute
Was das neue Gesetz in der Versorgungsrealität bedeuten könnte, zeigt das Beispiel von Renate Böhme in der Wundpraxis Berlin der Chirurgin und Wundexpertin Barbara Temme. Seit 2016 ist die Rentnerin dort aufgrund ihres Ulcus cruris in Behandlung. „Ich bin ganz begeistert, wie gut es ihr heute geht“, erklärt die Ärztin.
Die Wunde war damals erheblich größer und nässte sehr stark, so dass die Patientin kaum noch ihre Wohnung verließ und einen Krankenhausaufenthalt befürchtete. „Wir haben mit silberhaltigen Wundauflagen die lokale Infektion gestoppt. Ein stationärer Aufenthalt erübrigte sich“, erinnert sich Barbara Temme und erläutert: „In bestimmten Wundsituationen verbessern silberhaltige Verbandmittel die Therapieoptionen erheblich – vor allem bei Wunden mit einer lokalen Infektion, beispielsweise durch multiresistente Erreger. Wenn keine weiteren Symptome wie Fieber vorliegen, lassen sich damit Patienten wie Renate Böhme gut führen – ohne Klinikaufenthalt oder systemische Antibiotika. Zudem vereinfacht sich die Behandlung: Ich muss eine infizierte Wunde weniger häufig kontrollieren.“
Die GSAV-Pläne führen zu mehr Antibiotika-Einsatz
Falls die GKV Verbandmittel mit aktiven Wirkkomponenten, wie beispielsweise Biatain Ag (Coloplast), nicht mehr erstatten, rechnet Barbara Temme mit einer erheblichen Versorgungsverschlechterung für viele ihrer Patientinnen und Patienten: „Sie könnten sich diese Verbandmittel nicht aus eigener Tasche leisten und müssten stattdessen auf herkömmliche Produkte zurückgreifen.“ Auch bei der Patientin mit Ulcus cruris, Renate Böhme, wäre die Rente zu gering.
Bei lokalen Wundinfektionen befürchtet Barbara Temme eine vermehrte Verordnung von Antibiotika. Besonders betroffen von den GSAV-Plänen wären Patienten mit chronischen Wunden in Pflegeheimen, weiß Tanja Santjer, medizinische Fachangestellte und Wundexpertin in der Praxis von Barbara Temme: „Dort werden sie aus Angst vor Ansteckung mit multiresistenten Erregern von den übrigen Bewohnern isoliert und in ihrer sozialen Teilhabe eingeschränkt. Dagegen ist eine Isolation nicht zwingend notwendig, wenn die Wunden gut abgedeckt und versorgt sind.“ Tanja Santjer sieht im GSAV-Entwurf einen medizinischen Rückschritt: „Früher wurden Antibiosen in die Wunden geschmiert, was unnötigerweise zu Resistenzen führt. Hingegen können wir heute mit dem gezielten, kurzzeitigen Einsatz silberhaltiger Wundauflagen Patienten mit einer lokalen Wundinfektion gut führen und stabilisieren.“
Aseptisch wirkende Verbandmittel entlasten das Gesundheitssystem
Überdies erwartet Barbara Temme dadurch Nachteile für das gesamte Gesundheitssystem: „Wir versorgen durchschnittlich 1.400 Patienten pro Quartal – darunter 700 mit chronischen Wunden. Schon heute kommen wir mit stündlich sechs bis acht Fällen an unsere Leistungsgrenze. Ohne die aseptisch wirkenden Verbandmittel müssten wir die Patienten noch engmaschiger führen und öfter einbestellen, was real nicht leistbar ist. Uns bliebe daher nur, sie stationär einzuweisen.“ Tanja Santjer bringt es auf den Punkt: „Am Ende rechnet sich der Einsatz der modernen Verbandmittel: Sie reduzieren Krankenhausaufenthalte und den Antibiotika-Einsatz.“
Barbara Temme ist Fachärztin für Chirurgie, Wundexpertin (ICW) und Hygienebeauftragte.
Ärztin Barbara Temme hat sich in ihrer „Wundpraxis Berlin“ in Berlin-Neukölln auf moderne Wundtherapie spezialisiert. Ihre umfassende medizinische Erfahrung beruht auf 14-jähriger Tätigkeit als examinierte Kranken- und OP-Schwester und auf einer weitgefächerten ärztlichen Ausbildung in der Chirurgie und Unfallchirurgie in renommierten Berliner Kliniken. Über die ambulante Patientenbetreuung hinaus gestaltet Barbara Temme Kompetenznetzwerke und verbreitet ihr Wissen durch vielfältige Dozenten- und Referententätigkeiten. Zudem führt sie auch Wundvisiten in Seniorenheimen durch.
Quelle: Barbara Temme. Mit freundlicher Unterstützung der Coloplast GmbH
Quellen:
- GSAV verschärft Probleme bei chronischer Wundversorgung, Mitteilung des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVmed), 26.4.2019: https://www.bvmed.de/de/technologien/haut/gsav-verschaerft-die-probleme-bei-chronischer-wundversorgung?pk_campaign=src_RSS
- Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV), AOK-Bundesverband: https://www.aok-bv.de/hintergrund/gesetze/index_21508.html
- Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV), Drucksache 19/8753