Erst kürzlich hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen über einen Fall entschieden, bei dem eine Krankenpflegerin eine Abmahnung von ihrem Arbeitgeber erhielt, weil sie ihm gegenüber eine Gefährdungsanzeige gemäß § 16 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) formuliert hatte. Grund war, dass sie zusammen mit zwei Auszubildenden auf der Station eingesetzt wurde, obwohl neben ihr mindestens eine weitere examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin hätte eingesetzt werden müssen. Sie empfand die personelle Situation als unzureichend. Wie das LAG im Berufungsverfahren entschied, war die dafür erteilte Abmahnung seitens des Arbeitgebers nicht rechtmäßig. Sie muss also aus der Personalakte der Krankenpflegerin entfernt werden.
Die Rechtsdepesche hat diesen aktuellen Fall als Anlass genommen, um einige Fragen zu klären, die sich in Bezug auf eine solche Gefährdungsanzeige ergeben und dazu Prof. Dr. Volker Großkopf, Professor für Rechtswissenschaften im Fachbereich Gesundheitswesen an der Katholischen Hochschule NRW in Köln, befragt.
Rechtsdepesche: Zunächst einmal: Worum handelt es sich eigentlich bei einer Gefährdungsanzeige?
Prof. Dr. Volker Großkopf: Nicht selten kommt es vor, dass Arbeitnehmer an ihre Grenzen der möglichen Belastung kommen. Dies kann durch permanenten Personalmangel, zu hohen Arbeitsaufwand oder auch durch strukturelle Defizite geschehen. Folgen können Fehler in der Durchführung der Aufgaben sein, aus denen dann unmittelbar Schäden für alle Beteiligten resultieren können.
Gerade für den Gesundheitssektor, der ja akut vom Personalmangel betroffen ist, kann man sich die Tragweite eines solchen Szenarios ausmalen: Nicht nur die Beschäftigten selbst können einen Schaden erleiden, zum Beispiel durch Stichverletzungen oder Stürze, auch für die Patienten bzw. Heimbewohner kann es zu unmittelbaren und möglicherweise schwerwiegenden Schäden kommen.
Hier hat sich die sogenannte Gefährdungsanzeige als Instrument etabliert, das es Arbeitnehmern ermöglicht, eine solche Gefährdungslage für den Patienten dem Arbeitgeber zu melden. Die rechtlichen Grundlagen für solche Gefährdungsanzeigen liefern das Arbeitsschutzgesetz, der Arbeitsvertrag, das Strafgesetzbuch (Garantenstellung) sowie das Bürgerliche Gesetzbuch.
Rechtsdepesche: Oftmals wird von einer Überlastungsanzeige gesprochen anstatt von einer Gefährdungsanzeige. Inwiefern ist die Begrifflichkeit der Überlastungsanzeige problematisch?
Großkopf: In zweierlei Hinsicht, vor allem aber weil der Begriff „Überlastungsanzeige“ lediglich die subjektive Belastungssituation des Beschäftigten zum Ausdruck bringt, während „Gefährdungsanzeige“ den Umstand einer Gefahrenlage für den Patienten oder Bewohner aus objektiver Sicht viel treffender beschreibt.
Darüber hinaus umgibt den Begriff „Überlastungsanzeige“ eine eher negative Konnotation. Er suggeriert, dass beispielsweise die Pflegekraft ihre Arbeit schlichtweg nicht mehr schafft, weil sie sich persönlich überlastet fühlt. Dabei soll eine solche Anzeige darauf hinweisen, dass die ordnungsgemäße Ausführung der Arbeitsaufgaben unter den jeweiligen Umständen nicht mehr möglich ist und deshalb eine Gefahr für Schäden für die Patienten und alle anderen Betroffenen besteht.
Rechtsdepesche: Bietet eine Gefährdungsanzeige Pflegefachkräften haftungsrechtlichen Schutz, wenn sie Fehler machen?
Großkopf: Sie bietet eine haftungsrechtliche Entlastung im Falle eines Schadens. Dennoch darf die Gefährdungsanzeige nicht als „Freifahrtschein“ für Fehler interpretiert werden – der Beschäftigte bzw. die Pflegefachkraft hat ihre Aufgaben trotzdem immer nach bestem Wissen und Gewissen durchzuführen. Eine Mithaftung bei einem entstandenen Schaden besteht trotz Gefährdungsanzeige immer. Mithin ist der häufig zu findende Hinweis: „Ich lehne die Verantwortung ab“ gegenstandslos und sollte daher vermieden werden.
Rechtsdepesche: Ist es Pflicht, den Arbeitgeber über mögliche Gefährdungen zu informieren?
Großkopf: Ja, ist es. Die Pflicht zur Meldung ergibt sich durch die §§ 611a und 242 BGB. Demnach sind Beschäftigte dazu verpflichtet, ihren Arbeitgeber über potenziell eintretende Schäden zu informieren und ihn zu warnen, wenn sie absehbar sind. Auch auf organisatorische Mängel muss hingewiesen werden. Außerdem müssen Beschäftigte für ihre Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit Sorge tragen, ebenso wie für diejenigen Personen, die von den Handlungen der Beschäftigten betroffen sind – also für die Patienten und Heimbewohner, um es auf den Gesundheitssektor zu spezifizieren.
Rechtsdepesche: Ab wann ist eine Gefährdungsanzeige zu tätigen?
Großkopf: Wenn die Arbeitsaufgaben aufgrund bestimmter Umstände nicht mehr fachgerecht durchgeführt werden können und daraus eine potenzielle Gefährdung für alle Betroffenen einhergehen kann. Gründe können Personalmangel, Termindruck, strukturelle Mängel, nicht vorhandene oder defekte Hilfsmittel, Überbelegung oder zu hoher Arbeitsaufwand sein, um nur einige Beispiele zu nennen.
Rechtsdepesche: Stimmt es, dass ein Arbeitgeber durch eine Gefährdungsanzeige gezwungen ist, mehr Personal einzustellen?
Großkopf: Der Arbeitgeber ist dazu verpflichtet, die Gefährdungslage zu überprüfen, zu bewerten und nach Möglichkeit entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um die „Gefahr abzuwenden“. Ob dies durch den Einsatz von mehr Personal oder durch andere Maßnahmen erfolgt, ist zunächst einmal nicht vorgeschrieben und obliegt dem Direktionsrecht des Arbeitgebers.
Rechtsdepesche: Haben Sie einen letzten Praxistipp für Pflegefachkräfte, wenn sie eine Gefährdungsanzeige machen wollen?
Großkopf: Ja durchaus: Die Gefährdungsanzeige sollte immer schriftlich erfolgen und den Vorgesetzten zugehen, auch die Aufbewahrung einer Kopie ist empfehlenswert. Sie funktioniert als Beweisschrift und kann bei haftungs- und/oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen zur Verteidigung hinzugezogen werden. Wenn sich der Zustand der Gefahrenlage dauerhaft nicht verbessert, ist die Wiederholung der Gefährdungsanzeige zu empfehlen, um erneut auf die Situation aufmerksam zu machen. Sollte auch dann keine Änderung des Zustandes erfolgen, wäre eine Eskalation auf die übergeordnete Führungsebene ratsam.
Warum übrigens in bestimmten Fällen eine Gefährdungsanzeige gegenüber einem Vermerk in der Pflegedokumenation vorzuziehen ist, erfahren Sie in diesem Videobeitrag.
FAQ
Was tun, wenn die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich eine Gefahr darstellen?
Wenn Pflegefachkräfte feststellen, dass ihre Arbeitsbedingungen – etwa durch Personalmangel oder strukturelle Defizite – eine Gefahr für die Patienten oder ihre eigene Gesundheit darstellen, sollten sie eine „Gefährdungsanzeige“ gemäß § 16 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) an die nächst höhere Führungsebene richten. Diese Anzeige verpflichtet den Arbeitgeber, die in der „Gefährdungsanzeige“ benannte Situation zu überprüfen und sich daraus ergebende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen. Wichtig ist, dass die Anzeige schriftlich erfolgt, um bei möglichen arbeits- oder haftungsrechtlichen Folgen als Beweis dienen zu können.
Wer haftet, wenn trotz Gefährdungsanzeige ein Fehler passiert?
Eine „Gefährdungsanzeige“ bietet Pflegekräften eine gewisse haftungsrechtliche Entlastung, wenn durch die gemeldeten Gefahren ein Schaden entsteht. Allerdings bleibt die Pflegekraft weiterhin in der Pflicht, ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen. Eine komplette Haftungsbefreiung tritt nicht ein; die Pflegekraft kann bei Fehlern unter bestimmten Umständen mithaften, selbst wenn eine Gefährdungsanzeige vorliegt.