Für eine Woche begaben sich rund 70 Teilnehmer Ende Januar nach Gran Canaria, um bei der diesjährigen Winterakademie 2020, einer Fortbildungsveranstaltung für Pflegende und Fachkräfte des Gesundheitswesens, dabei zu sein. In diesem Jahr war die Teilnehmerzahl höher denn je. Kein Wunder, denn die Winterakademie hielt einen überaus bunten Strauß an Vorträgen zu Themen bereit, die brandaktuell sind, die einen Blick in die Zukunft wagen und die unter den Nägeln brennen. Ein Highlight war die Anwesenheit des Staatssekretärs Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, der die gesamte Woche begleitete und mit seinem Vortrag einen Einblick in das aktuelle pflegepolitische Geschehen gab. Darüber hinaus wurden den Teilnehmern spannende Vorträge zur Pflegeberufereform, zum Erfolgsmodell Buurtzorg aus den Niederlanden, zu aktuellen Entwicklungen und Neuerungen der Pflege 4.0 sowie zu neuen Möglichkeiten der Patienten- und Bewohnerversorgung geboten.
Wie Ernährung unsere Gesundheit beeinflusst
Letzterem Thema galt der Auftakt: Welchen Einfluss hat die Ernährung auf unseren Körper, auf unsere Gesundheit und wie können Mikro- und Makronährstoffe präventiv, aber auch als komplementäre Therapiemöglichkeit eingesetzt werden? – darüber informierte Joachim Lennefer die Teilnehmer. Der Dipl.-Pflegewirt und Fachkrankenpfleger für psychiatrische Pflege ist zugleich zertifizierter Experte für Mikronährstoffmedizin in der Praxis und konnte daher verständlich die Wirkweisen von Makro- und Mikronährstoffen vermitteln und das Bewusstsein über deren Einfluss auf Körper, Geist und Seele schulen. Dazu unternahm er eine Reise in die Biochemie, in die menschliche Zelle, wo der Stoffwechsel stattfindet. Diese Zusammenhänge zu verstehen sei wichtig, so Lennefer, getreu nach dem Motto „knowledge empowers“. Das Wissen könne in den eigenen Lebensstil integriert werden, um sich selbst fit zu halten und vor Zivilisationskrankheiten wie beispielsweise Demenz zu schützen.
Ein großes Problem bei der Ernährungszufuhr, gerade auch bei Diäten, sei ein falsches Verhältnis von Kohlenhydraten und Fett- beziehungsweise Eiweißanteilen. Lennefer ist sich daher sicher: „Diäten machen dick, sie werden sogar als Risikofaktor zur Entwicklung einer Adipositas eingestuft.“ Die Erkenntnisse der orthomolekularen Medizin können aber nicht nur im eigenen Alltag umgesetzt werden, sondern sollten Lennefer zufolge auch unbedingt Beachtung im Zusammenhang mit Medikamenten finden. So werde oftmals nicht berücksichtigt, dass beispielsweise die Einnahme eines Magensäureblockers wie Omep zu einem intrazellulären Mangel an Magnesium, Zink und B12 führt. Diese Mikronährstoffe müssten also in diesem Fall zusätzlich zugeführt werden.
Staatssekretär Andreas Westerfellhaus mit positivem Blick in die Zukunft
Ein besonderer Akzent wurde bei der diesjährigen Winterakademie durch den thematischen Fokus auf aktuelle pflegepolitische Vorhaben und Entwicklungen gesetzt. So hat Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, in seinem Vortrag Einblick in seine pflegepolitischen Ansichten und Ziele gegeben. Dabei verdeutlichte er ganz klar, dass der Fachkräftemangel sowie die Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Pflege, aber auch Bereiche wie der Ausbau der Kurzzeitpflege für ihn oberste Priorität in seiner politischen Arbeit haben. Hier sei es vor allem Ziel, mehr Angebote zur Kurzzeitpflege zu schaffen sowie das Antragsverfahren für Betroffene zu vereinfachen, da die Leistungen, die ihnen zustehen, nach wie vor nur in geringem Maße beansprucht werden. Dazu brauche es auch eine Pflegeberatung, an die sie sich im Falle eines Pflegebedarfs wenden können.
Doch gerade der Pflegepersonalmangel bereite ihm „Kopfzerbrechen“, erklärte Westerfellhaus den Teilnehmern. Für Lösungen arbeitet er eng mit dem Bundesgesundheitsminister, Jens Spahn, zusammen. Von Klagen über diesbezügliche Versäumnisse in der Vergangenheit hält der Pflegebevollmächtigte aber nichts. Um vorwärts zu kommen, müsse „jetzt etwas passieren“ und auch wenn die Ungeduld groß ist, könne Schritt für Schritt etwas verändert werden.
Besonderes Augenmerk legte er auf die Konzertierte Aktion Pflege, deren Ergebnisse im Juni 2019 vorgestellt wurden. Oftmals, so Westerfellhaus, werde ihm entgegnet, dass all dies keine neuen Ideen seien. Doch er ist überzeugt: Dieses Mal ist es anders, „dieses Mal haben alle unterschrieben“. Entscheidend sei, dass man sich damit auf einen Prozess geeinigt hat, in den man zusammen eingestiegen sei und an dem man nun fortlaufend arbeiten wird.
Vorgesehen ist eine Reihe von Maßnahmen, wie etwa die Schaffung von 10 Prozent mehr Ausbildungsplätzen, die natürlich auch 10 Prozent mehr Auszubildende in der Pflege fordern. Dazu – und darin sehe der Pflegebevollmächtigte eine der großen Stellschrauben – müssen die Rahmenbedingungen in der Pflege zwingend verbessert werden. Viele der Pflegefachkräfte sind nämlich genau wegen der schlechten Rahmenbedingungen aus dem Beruf ausgestiegen, können sich eine Rückkehr jedoch vorstellen, wenn diese besser würden. Zuletzt brachte der Pflegebevollmächtigte den Teilnehmern noch eine wichtige Botschaft nahe: Ihm sei es wichtig, die Verbesserung der Pflegesituation in Deutschland auch als eine gemeinschaftliche Aufgabe zu sehen.
Nach dem Vortrag hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit dem Pflegebevollmächtigten, Prof. Gertrud Hundenborn und Dr. Jan Basche Fragen zu stellen und mit ihnen Lösungsansätze zu diskutieren. Für Westerfellhaus hielt der Tag noch einen weiteren Programmpunkt bereit. Gemeinsam mit den Veranstaltern der Winterakademie, Prof. Dr. Volker Großkopf und Michael Schanz, traf er sich mit dem Generalkonsul von Gran Canaria, Wolfgang Schwarz, um sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Pflege in Spanien und Deutschland konstruktiv auszutauschen.
Die Generalistik verschafft der Pflege ein neues Berufsprofil – Prof. Hundenborn zur Pflegeberufereform
Dem pflegepolitischen Diskurs schloss sich auch Prof. Gertrud Hundenborn mit ihrem Vortrag zur Pflegeberufereform an. Prof. Hundenborn, die die Pflegeforschung in Deutschland maßgeblich geprägt und die Ausbildungsinhalte der neuen generalistischen Pflegeausbildung entscheidend mitgestaltet hat, blickt bereits auf eine lange Geschichte des Reformprozesses zurück: Schon 1995 kam die erste Anfrage, ob sie bei der Entwicklung eines Modellversuches für eine generalistische Pflegeausbildung mitwirken wolle; nun mit Beginn des Jahres 2020 ist das Gesetz in seinen wesentlichen Bestimmungen in Kraft getreten. Die Generalistik hält eine Reihe von Neuerungen für den Pflegeberuf bereit, schließlich geht mit der neuen Pflegeausbildung ein neues Berufsprofil samt neuer Berufsbezeichnung einher: Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner werden künftig nicht mehr Lebensalter‑, sondern Settingspezifisch ausgebildet.
Gezielt hat Prof. Hundenborn fünf Innovationen herausgegriffen. So sind beispielsweise die Vorbehaltsaufgaben der Pflegeberufsgruppe neu geregelt und stellen, so Hundenborn, eine historische Errungenschaft dar. Wer diese Aufgaben außer der vollständig generalistisch ausgebildeten Fachkräfte übernehmen darf, ist jedoch differenziert zu betrachten. Gekonnt hat Prof. Hundenborn den Teilnehmern diese Neuerungen nähergebracht und mit ihnen anhand praxisorientierter Fallbeispiele diskutiert.
Vorbild Holland: Das Erfolgsmodell der ambulanten Pflege „Buurtzorg“ ist in aller Munde
„Man gibt mir meinen Beruf zurück.“ Diesen Satz hat Johannes Technau, Geschäftsführer von Buurtzorg Deutschland, nun schon öfter gehört. Buurtzorg ist das Erfolgsmodell der ambulanten Pflege aus den Niederlanden, das sich dort mittlerweile zum größten ambulanten Dienst entwickelt hat. Und auch hierzulande wird es bereits erfolgreich in Modellprojekten erprobt und ist mittlerweile international verbreitet. Selbstorganisiert und hierarchiefrei arbeiten Pflegeteams von maximal 12 Personen zusammen, für die Pflege ihrer Patienten nehmen sie sich die Zeit, die benötigt wird. Eine Pflegedienstleitung gibt es nicht. Die Aufgaben, die von ihr übernommen werden würden, werden auf die Teammitglieder verteilt. So lässt sich das Konzept in seinen Grundzügen beschreiben, doch dahinter steckt noch mehr.
„Buurtzorg“ heißt übersetzt so viel wie „Nachbarschaftspflege“ und der Name ist Programm. Denn ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit von Pflegenden bei Buurtzorg ist es, Angehörige, Freunde und Familienmitglieder – also das informelle Netzwerk – der pflegebedürftigen Menschen mit in den Pflegeprozess einzubeziehen und Beziehungspflege zu betreiben. Auf diese Weise gelingt es, die Selbständigkeit der Pflegebedürftigen so lange wie möglich zu erhalten, sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen und ihren pflegerischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Das Konzept stützt sich auf die Vision einer „inspirierenden Pflege“, erklärte Technau den Teilnehmern. Vertrauen, Autonomie, Zusammenarbeit, Kreativität und Einfachheit sind die Leitprinzipien, nach denen gearbeitet wird.
Auf Staunen stieß er vor allem, als er das Organigramm präsentierte: Hinter 15.000 Pflegekräften stehen 50 Mitarbeiter im Backoffice, 21 Coaches und 2 Directors; von Pfeilen, die eine Hierarchie erkennen lassen würden, keine Spur. Managementstrukturen werden auf ein Minimum reduziert und stattdessen auf die Selbständigkeit des Einzelnen und der Teams gesetzt. „Wir sind kein theoriegeleitetes, neu-modernes Unternehmen im klassischen Sinne, wir erschließen uns alles aus logischer Evidenz“, so Technau weiter.
Natürlich gebe es auch noch viele offene Fragen und Herausforderungen, denen man sich stellen müsse, auch rechtlicher Natur. Es gehe auch nicht darum, Buurtzorg als einziges ambulantes Pflegemodell in Deutschland zu etablieren. Doch bislang kann der Geschäftsführer von Buurtzorg Deutschland durchaus positive Bilanz ziehen: Insgesamt werden Arbeitsstunden je Patient sogar eingespart und die Mitarbeiterzufriedenheit sei hoch, Fluktuation gebe es kaum. Eines ist Johannes Technau in jedem Fall gelungen: Seinen positiven Spirit und die Überzeugung einer inspirierenden Pflege konnte er auf die Teilnehmer übertragen und ihnen zeigen, dass es sich manchmal lohnt, alte Strukturen zu hinterfragen und neue Wege zu gehen.
Möglichkeiten und Chancen der Pflege 4.0
Dem Motto „Die Zukunft der Pflege“ programmatisch folgend hat Dr. Jan Basche Möglichkeiten im Bereich der Pflege 4.0 zur Entlastung und Unterstützung pflegerischer Tätigkeiten dargestellt. Dabei ging es ihm nicht um mittlerweile längst bekannte und etablierte Systeme der Digitalisierung, sondern um Hilfesysteme und Subsysteme, die etwa in die Bereiche Smart Living oder Ambient Assisted Living (AAL) fallen. Sie können – neben vielen weiteren Lösungsansätzen und Stellschrauben – eine Antwort auf die Frage sein, wie die pflegerische Versorgung hierzulande optimiert werden kann. Der Psychologe und Geschäftsführer mehrerer ambulanter Pflegedienste tastete sich feinfühlig gemeinsam mit den Teilnehmern an die Thematik heran und präsentierte ihnen viele Beispiele, die auf dem Markt der Pflege 4.0 zur Verfügung stehen: Die Möglichkeiten reichen hier von Körperprothesen mit Sensorikausstattung, über im Wohnbereich integrierte Bewegungsmelder bis hin zu Telenursing und Kuschelrobotern (Paro). Dr. Basche räumte ein, dass bei der Frage nach Chancen und Risiken der Pflege 4.0 auch immer die Frage nach dem Selbst- und Fremdbild der Pflege und Pflegenden berücksichtigt werden müsse. Doch auf Ablehnung ist man hier unter den Teilnehmern kaum gestoßen. Sie waren sich einig, dass viele dieser Hilfesysteme eine gute Ergänzung im pflegerischen Alltag und vor allem eine Bereicherung für die pflegebedürftigen Menschen sein können.
„Teilnehmer informieren Teilnehmer“
Nachmittags wurden ebenfalls einige interessante Vorträge im Rahmen des Programmpunktes „Teilnehmer informieren Teilnehmer“ bereitgehalten – darunter Heike Senge der Pflegeakademie Niederrhein zu dem Thema „Personaleinsatz bei der Wundversorgung. Die HKP-Richtlinie und deren Auswirkung“, Jörg Westphal von Hellmund – Die Personalberater zum Thema „Mitarbeiterbindung, Mitarbeitergewinnung. Kleine Fehler, teure Folgen“ sowie Dr. Alexander Nussbaum von Philip Morris Germany, der die Teilnehmer über die Risikominimierung durch Alternativen zum Zigarettenkonsum informierte.
Rauchen gilt nämlich als Hauptursache für Krebsneuerkrankungen in Deutschland, weiß Dr. Nussbaum, der ursprünglich aus der Krebsforschung kommt. Doch keineswegs jeder Raucher ist gewillt, mit dem Rauchen aufzuhören und insbesondere in der Pflegebranche ist eine besonders hohe Raucherquote zu verzeichnen: „31 Prozent der Krankenschwestern, Altenpflegerinnen und Pflege“ würden laut Statistik rauchen. Daher stellte der Biochemiker den Teilnehmern Risikoreduzierte Produkte wie die E‑Zigarette und die sogenannten Tabakerhitzer vor. Anders als Zigaretten, bei denen durch das Verbrennen des Tabaks bei über 800 Grad Celsius toxische und krebserzeugende Verbrennungsprodukte entstehen, erhitzen die Tabakerhitzer den Tabak unterhalb der Grenze von 350 Grad Celsius.
Dabei verwies Dr. Nussbaum ausdrücklich darauf, dass natürlich auch diese Varianten nicht risikofrei sind und ein Rauchstopp immer die beste Option sei. Sie sollten also lediglich für diejenigen eine Alternative darstellen, die andernfalls den Zigarettenkonsum fortsetzen würden. Auch unter dem Aspekt des Brandschutzes etwa in Pflegeheimen können die Tabakerhitzer eine Option zur Gefahrenminimierung sein. Denn Rauchen zählt zu einer der häufigsten Brandursachen und allein im vergangenen Jahr habe es immerhin 128 Brände in sozialen Einrichtungen in Deutschland gegeben.
Das Motto für die Winterakademie 2021 steht bereits: „Nicht ärgern, sondern fairändern“
Abgerundet wurde die Woche mit einem Gruppen-Coaching unter der Fragestellung, wie sich für Personal in Medizin und Pflege Familie und Beruf vereinbaren lassen – geleitet von Christine Kaiser, Trainerin und systemischer Coach für Kommunikation und Prozessbegleitung im Gesundheitswesen.
Veranstalter Prof. Großkopf zeigte sich am Ende der Winterakademie überaus zufrieden: „Ich freue mich, dass die Winterakademie erfolgreich zu Ende gegangen ist und habe den Eindruck, dass die Teilnehmer viel mit nach Hause nehmen konnten.“ Warum alljährlich der weite Weg bis auf die Kanaren auf sich genommen wird, hat übrigens auch einen Grund, den Großkopf verriet: „Wir wollen die Teilnehmer gänzlich aus ihrem beruflichen und persönlichen Alltag herausholen, damit sie sich hier völlig den Inhalten der Fortbildung öffnen und miteinander in einen konstruktiven Dialog treten können. Dadurch, dass wir hier eine ganze gemeinsame Fortbildungswoche miteinander verbringen, entstehen zahlreiche themenbezogene Gespräche untereinander, die sonst nicht stattfinden würden und von denen viele, viele Teilnehmer schon profitiert haben.“