Klingel
In Reich­weite des Bettes befand sich keine Klingel

Direkt nach der Geburt werden die Mutter und das Neuge­bo­rene von der Hebamme im Kreiß­saal alleine gelas­sen, um zu „bonden“ (Mutter-Kind-Bezie­hung aufbauen). Vor Gericht schil­dert die Mutter, dass ihr das Kind in den folgen­den Minuten sehr ruhig vorkam. Zunächst dachte sie, dass das Kind schla­fen würde, nachdem es sich aber gar nicht mehr regte, wollte die Mutter über die Notruf­klin­gel Hilfe holen, damit jemand nach dem Kind schaut. In Reich­weite ihres Bettes befand sich aller­dings keine Klingel. Weil die Mutter noch sehr geschwächt war von der Geburt, gelang es ihr noch nicht aufzu­ste­hen, um so die Hebamme zu alarmie­ren. 15 Minuten vergin­gen – in dieser Zeit erlitt das Kind bereits eine Atemde­pres­sion (Sudden Unexpec­ted Postna­tal Collapse). Obwohl die Hebamme direkt mit der Behand­lung und Reani­ma­tion begann, erlitt das Kind schwere Hirnschä­di­gun­gen (Hirnschä­di­gung in Form einer hypoxisch-ischä­mi­schen Enzepha­lo­pa­thie).

300.000 Euro Schmer­zens­geld gefor­dert

Die durch ihre Eltern vertre­tene minder­jäh­rige Kläge­rin machte gegen die Beklag­ten Schmer­zens­geld­an­sprü­che in Höhe von 300.000 Euro und Schadens­er­satz­an­sprü­che wegen behaup­te­ter geburts­hilf­li­cher Behand­lungs­feh­ler im Zusam­men­hang mit ihrer Geburt geltend. Das Landge­richt Hanno­ver hielt die Klage dem Grunde nach für gerecht­fer­tigt und begrün­det diese Entschei­dung mit der fehlen­den Versor­gung der Kläge­rin. Zur Standard­ver­sor­gung gehöre nach der Geburt durch eine Hebamme auch eine Notruf­klin­gel, die für die Mutter in unmit­tel­ba­rer Nähe zu errei­chen sei. Verant­wort­lich für die fehlende Versor­gung sei in diesem Fall die beklagte Hebamme zu machen, weil sie zustän­dig für die Organi­sa­tion in diesem Bereich ist. Nach § 630h Absatz 5 BGB sei ihr Behand­lungs­feh­ler auch kausal für die Schädi­gung der Kläge­rin. Es liege somit nach der Beratung durch einen Sachver­stän­di­gen ein grober Behand­lungs­feh­ler vor.

Klingel ist nicht optio­nal: Hebamme muss vom Bett aus alarmiert werden können

Kranken­haus­trä­ger und Hebamme legten gegen diese Entschei­dung Berufung ein. Das Oberlan­des­ge­richt Celle hat diese aber abgelehnt. Schadens­er­satz- und Schmer­zens­geld­an­sprü­che seien nach §§ 630a, 280 Absatz 1, 278 BGB bzw. §§ 823 Absatz 1, 31, 89 BGB jeweils in Verbin­dung mit §§ 249, 253 Absatz 2 BGB zuläs­sig. Es bleibt dabei, dass der beklag­ten Kranken­haus­be­trei­be­rin ein Behand­lungs- bzw. Versor­gungs­feh­ler zuzurech­nen ist. Es müsse der Mutter ermög­licht werden, durch eine in Reich­weite befind­li­chen Klingel oder ähnli­chen Vorrich­tun­gen eine Hebamme zu alamie­ren, ohne aus dem Bett aufste­hen zu müssen. Das müsse in der postpar­ta­len Überwa­chungs­phase bis zu zwei Stunden nach der Geburt möglich sein. Die geburts­hilf­li­chen Standards seien nicht einge­hal­ten worden.

Geburts­hilf­li­chen Standards wurden nicht einge­hal­ten

Der medizi­ni­sche Standard reprä­sen­tiert den jewei­li­gen Stand der Natur­wis­sen­schaft und ärztli­chen Erfah­rung, der nötig ist, um das Behand­lungs­ziel zu errei­chen und sich in der Vergan­gen­heit als bewährt gezeigt hat. Leitli­nien können dabei den Standard beschrei­ben, sind aber nicht mit dem medizi­ni­schen Standard gleich­zu­set­zen. Gibt es – wie hier – keine Leitli­nien zur Sicher­stel­lung der postpar­ta­len Erreich­bar­keit von Hebam­men und keine wissen­schaft­li­chen Studien über den Nutzen einer Bettklin­gel, ist der geburts­hilf­li­che Standard danach zu ermit­teln, was von einem gewis­sen­haf­ten und aufmerk­sa­men Geburts­hel­fer in der konkre­ten Behand­lungs­si­tua­tion aus der berufs­fach­li­chen Sicht seines Fachbe­reichs im Zeitpunkt der Behand­lung erwar­tet werden kann.

Es könne nicht davon ausge­gan­gen werden, dass die Mutter in dieser Postpor­ta­len Zeit in der Lage sei, selbst­stän­dig das Bett zu verlas­sen. Es liege nach Auffas­sung des Gerichts somit ein grober Behand­lungs­feh­ler vor. Dies führt zu einer Beweis­last­um­kehr der haftungs­be­grün­de­ten Kausa­li­tä­ten zulas­ten der Beklag­ten. Nach § 630h Absatz 5 Satz 1 BGB wird davon ausge­gan­gen, dass ein grober Behand­lungs­feh­ler, der grund­sätz­lich geeig­net ist, eine Verlet­zung des Lebens, des Körpers oder der Gesund­heit der tatsäch­li­chen einge­tre­te­nen Art herbei­zu­füh­ren, für diese Verlet­zung ursäch­lich war. Das war hier der Fall. Die Beklag­ten konnten nicht bewei­sen, dass die Kindes­mut­ter Mitschuld an den entstan­de­nen Geburts­schä­den hätte.

Mutter trägt keine Mitschuld an den Schäden ihres Kindes

Allein durch das Fehlen der Klingel in Reich­weite der Mutter ist es bei der Behand­lung und Reani­ma­tion der Kläge­rin zu Verzö­ge­run­gen gekom­men. Hätte die Kinds­mut­ter die Klingel früher betäti­gen können, hätte ein frühe­res Eingrei­fen der Hebamme mit großer Wahrschein­lich­keit dazu geführt, dass der Gesund­heits­scha­den der Kläge­rin nicht oder nur in gerin­ger Ausprä­gung einge­tre­ten wäre.