Familienaufstellung als Experiment in der Praxis: Das Erstaunen im Saal schien mit Händen zu greifen. Absolut lebensecht und emotional schlüpften die Mitwirkenden in ihren Familien-Part, den sie spielen sollten. Teils flossen Tränen; Wut, Trauer und Freude waren die stetigen Begleiter des Vormittags.
Aus der Mitte der Runde heraus hatte Jochen Bickert, DGfS-zertifizierter Systemischer Coach und „Familienaufsteller“, zwei Fallkonstellationen aus seinem Publikum herausgenommen: zum einen der Fall von körperlichen Beschwerden, an denen traumatische Erfahrungen in der Kindheit wohl entscheidenden Anteil haben. Zum anderen ein Nachbarschaftszwist, dessen eigentlicher Auslöser jedoch eine frühe Verlusterfahrung ist.
Die beiden Teilnehmerinnen schilderten in der Runde ihr Problem und erläuterten die Konstellation, die zugrunde liegenden persönlichen Beziehungen sowie die Verhältnisse zwischen den Akteuren. Danach konnten sie weitere Personen im Saal vorschlagen, die aus ihrer Sicht eine Rolle übernehmen könnten; wenn sie einverstanden waren, betraten sie die Bühne in der Mitte des Konferenzraums. Nach einiger Zeit übernahmen die Teilnehmerinnen in ihrem jeweiligen Fall die Hauptrolle der Person, die auf der „Bühne“ gerade sie spielte.
Familienaufstellung: Über Reaktionen überrascht
Die Resultate dieser Familienaufstellung waren überwältigend: Sowohl das Publikum, als auch diejenigen, die gerade eine Familienrolle übernommen hatten, waren überrascht über die sehr starken körperlichen und emotionalen Reaktionen. „Es gibt etwas zwischen Himmel und Erde, was wir schlichtweg nicht begreifen – und vielleicht ist das auch richtig so“, so etwa eine der Akteurinnen nach einer Aufstellung, an der sie beteiligt war.
Unter dem Titel „Im Dialog mit mir“ am vierten Programmtag der Winterakademie 2024 auf Gran Canaria stellte Bickert das therapeutische Konzept vor, das eine Mischung aus Psychologie und darstellender Kunst ist. Im Rollenspiel werden die Motive der Handelnden klar; Lösungen werden sichtbar und auf einmal ganz einleuchtend.
Bickert, der sein Berufsleben als Sänger, Schauspieler, Sprecher, Moderator, Regisseur und Autor begonnen hatte und in Frankfurt/Main lebt, hatte 2008 eine Ausbildung zum Systemischen Coach absolviert, die er 2011 abschloss. Seitdem leistet er in ganz Deutschland Familienaufstellungen und Systemische Aufstellungen, aber auch Organisations-Aufstellungen.
Ursachen für Konflikte liegen häufig in Familie
Er ist überzeugt: Die Probleme, die man mit sich herumträgt, haben sehr häufig ihre Ursache in der Kindheit.
„In Interviews erzählen viele aus der Kriegsgeneration, dass ihre Eltern ihnen nie wirkliche Zuwendung gegeben haben – so als wenn die Eltern durch sie hindurchgeschaut hätten. Dass sie nie umarmt wurden“, erläuterte er.
„Da stellt sich natürlich schnell die Frage: Bin ich eigentlich gewollt?“ Häufig sei das gerade bei Kindern, die eine Flucht ihrer Familie miterlebt haben, der Fall. „Da schien es schlicht keine Zeit für Zuwendung zu geben. Alle waren mit anderen Dingen beschäftigt, nach dem Zweiten Weltkrieg etwa mit dem Wiederaufbau.“
Ein weiterer typischer, interessanter Fall war der eines Menschen, der lange im Glauben war, der Erstgeborene in seiner Familie zu sein. Doch irgendwie fühlte es sich nicht so an – er machte nicht im gleichen Maße die Erfahrungen wie andere erstgeborene Kinder: das starke Sich-Durchsetzen-Müssen, sich Freiräume zu erkämpfen und selbstbewusst für seine Sache einzustehen.
„Er fühlte sich nie wie ein richtiger Erstgeborener. Bis er irgendwann von seinen Eltern erfuhr, dass es vor seiner Zeit einmal einen älteren, früh verstorbenen Bruder gegeben hatte.“ Erkenntnisse, wie sie durch eine Familienaufstellung zutage gebracht werden können.