Ist bei einem Notfalleinsatz die Erstdiagnose mit Unsicherheiten behaftet, muss der Arzt von der vital bedrohlichsten Erkrankung bzw. Verletzung ausgehen. Macht er dies leichtfertigerweise nicht, kann er nicht nur zivil‑, sondern sogar strafrechtlich belangt werden. So geschehen in einem vor dem Landgericht Meiningen am 6. September 2023 verhandelten Fall (Az.: 3 Ns 375 Js 2491/17):
Nachdem ein Mann aus mindestens vier Metern Höhe vom Dach seines Elternhauses gesprungen war und sich dabei lebensgefährliche Verletzungen zugezogen hatte, wies ihn der diensthabende Notarzt in die Psychatrie statt in ein Akutkrankenhaus ein, wo er kurz darauf seinen schweren inneren Verletzungen erlag.
Vor Gericht wurde der Arzt wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe in Höhe von 12.000 Euro (150 Tagessätzen zu je 80 Euro) verurteilt.
Vom Dach des Elternhauses gefallen (oder gesprungen)
Der stark alkoholabhängige Geschädigte hatte sich Anfang 2017 seit vier Tagen in „kaltem Entzug“ befunden. Am betreffenden Tag wurde er wegen Kreislaufproblemen ins Krankenhaus verbracht, das er jedoch am gleichen Nachmittag ohne ärztliche Behandlung eigenmächtig verließ. Er fuhr mit dem Taxi zum Haus seiner Eltern, wo er noch wohnte. Von seinem Zimmer im Obergeschoss stieg er über eine Leiter auf den Dachboden, von dort aus über eine weitere Leiter durch die Dachluke auf das schneebedeckte Dach.
Von dort aus sprang (oder fiel) er aus mindestens vier Metern herunter und landete auf der ebenfalls mit Schnee bedeckten Terrasse auf der Rückseite des Hauses. Dabei erlitt er unter anderem ein Beckentrauma mit Sprengung der Kreuzbein-Darmbein-Fuge und der Schambeinfuge, einen Bruch des Steißbeins sowie einen Abbruch der Querfortsätze des Lendelwirbelkörper 1 bis 5 linksseitig. Es kam zu ausgeprägten Weichteil-Einblutungen um die Bruchstellen herum.
Kurz darauf traf der alarmierte Notarzt an der Unglücksstelle ein. Der Angeklagte fand den Mann auf der Terrasse im Schnee liegend vor, nur mit T‑Shirt und Jogginghose bekleidet.
Bei seiner Erstuntersuchung stellte er jedoch keine vorhandenen Verletzungen fest und sah die Situation nicht eindeutig an. Er bezweifelte zudem, dass sich tatsächlich ein Sturz ereignet habe.
Fatale Erstdiagnose führt zur fehlerhaften Einweisung
Beim Versuch, ihn aufzurichten, stöhnte der Mann vor Schmerzen, konnte weder stehen noch laufen. Fünf Minuten später traf der Rettungswagen ein; bei einer zweiten Untersuchung im Rettungswagen stellte der Notarzt die Verletzungen abermals nicht fest.
Der Notarzt hatte den Verunfallten jedoch nicht vollständig entkleidet, ansonsten wäre ihm die Einblutung um die Genitalien herum aufgefallen. Ebenso hätte der Angeklagte die Instabilität des Beckens beim Notfallpatienten bemerken müssen; so war die faustgroße Sprengung der Schambeinfuge erkennbar.
Trotz des Verdachts und der Hinweise auf einen Sturz entschied sich der Notarzt, ihn nicht zur Akutversorgung in ein Klinikum, sondern in eine Psychatrie zu bringen. Eine Stunde später, nachdem sich der Zustand des Patienten abrupt verschlechtert hatte, erlag dieser dort seinen inneren Verletzungen.
Sturzereignis war zumindest „nicht auszuschließen“
In erster Instanz hatte das Amtsgericht Meiningen den Angeklagten wegen Körperverletzung in Tatmehrheit mit fahrlässiger Tötung zu neun Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, woraufhin sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft in Berufung gingen.
Das Landgericht wandelte das Strafmaß von einer Freiheits- in eine Geldstrafe um, sah die Anklage aber weiterhin als begründet an. Der Angeklagte hätte von einer vollständigen Basisuntersuchung nur dann absehen dürfen, wenn er den Geschädigten sofort in das nächste Akutkrankenhaus eingeliefert hätte, so das Gericht.
Zudem war der Notarzt bereits mit dem Einsatzgrund „Sturz“ zur Unglücksstelle beordert worden; ein Sturzereignis war für externe Betrachter zu allermindest nicht auszuschließen.
Ob der Patient bei sofortiger Intensivversorgung überlebt hätte, kann nicht sicher beurteilt werden. Dies liegt aber insofern nahe, als dass man dem Patienten auf der Intensivstation Blut und Flüssigkeit zugeführt und die Blutung gestoppt hätte. Auf jeden Fall wäre es nicht zu der Dekompensation gekommen, die dann in der Psychiatrie eingesetzt hatte.
Dadurch, dass der Angeklagte den Geschädigten in eine Klinik für Psychiatrie bringen ließ und nicht in ein Akutkrankenhaus, ließ er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht, so die Richter. Der Angeklagte hätte aufgrund seiner langen Tätigkeit und Berufserfahrung wissen müssen, dass der Patient in einer solchen Situation ohne schnelle Behandlung versterben kann.
Patient war nicht zurechnungsfähig
Auch eine – straflose – Selbstgefährdungs-Teilnahme verneinte das Gericht. Zwar sei der Geschädigte in möglicherweise suizidaler Absicht vom Dach gesprungen, jedoch zu dem Zeitpunkt nicht zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung fähig gewesen.
So habe er nach dem Sturz von Stimmen berichtet, die ihn zum Sprung aufgefordert hätten. Zudem sei der Angeklagte beim Eintreffen der Erstversorger ansprechbar und bei Bewusstsein gewesen, ohne dass er Äußerungen tätigte, die auf eine (weiterhin) bestehende Suizid-Absicht hingewiesen hätten. Ferner habe er ärztliche Behandlungsmaßnahmen nicht abgelehnt.