Nach einer Befragung von mehr als 5.000 Beschäftigten in Gesundheitsberufen kommt Prof. Karl H. Beine, Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke (UW/H) zu dem Ergebnis, dass die Zahl von Tötungen in deutschen Krankenhäusern vermutlich höher ausfällt als bisher angenommen. Das Bild des Einzeltäters, wie etwa in Delmenhorst, gerät ins Wanken, sind die Autoren überzeugt.
Eine Frage mit Interpretationsspielraum
„Mit unserer Erhebung wurde erstmalig in Deutschland das Phänomen von Tötungsdelikten im Gesundheitswesen empirisch untersucht. Es handelt sich um eine Pilotstudie zu einem heiklen Thema, über das nur ungern gesprochen wird“, sagt Prof. Beine. „Die Zahlen sind nicht repräsentativ, aber sie sollten uns alarmieren und zu weiterer Forschung auffordern. Die Studie liefert Hinweise dafür, dass die reflexartig vorgetragene Behauptung, es handele sich um Einzelfälle von kriminellen Psychopathen, zu hinterfragen ist.“
Die wissenschaftliche Befragung wurde im Herbst 2015 durchgeführt. 5055 Kranken‑, Altenpfleger und Ärzte haben sich beteiligt. Die entscheidende Frage zum Thema Lebensende lautete: „Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?“ Diese Frage ist weit gefasst und lässt Interpretationsspielraum zu. 3,4 Prozent der Ärzte, 1,8 % der Altenpfleger und 1,5 % der Krankenpfleger antworteten mit „Ja“.
Kein Generalverdacht gegen Ärzte und Pfleger
In der Interpretation der erhobenen Daten ist Prof. Beine bewusst vorsichtig:
„Unsere Untersuchung besagt nicht, dass nun gesichert von vielen tausend Mord- oder Totschlagsdelikten pro Jahr in Deutschland auszugehen ist.“ Unter den „Ja“-Antworten werde vermutlich auch eine unbestimmte Anzahl von lebensbeendenden Maßnahmen sein, die der passiven Sterbehilfe zuzuordnen sind – aber eben auch eine Anzahl Tötungen ohne explizite Willensäußerungen von Patienten oder Heimbewohnern.
„Diese Zahlen sind ein Anfang. Sie liefern einerseits den sicheren Beleg dafür, dass es überhaupt nicht gerechtfertigt ist, die vielen tüchtigen Helfer und Ärzte in Krankenhäusern und Heimen unter Generalverdacht zu stellen, weil 98,6 % der Krankenpfleger, 98,2 % der Altenpfleger und 96,6 % der Ärzte auf die Frage, ob sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet haben mit „nein“ geantwortet haben. Andererseits sind die Ergebnisse aber ein wichtiges Indiz dafür, dass die behaupteten Einzelfälle keine sind“, erläutert Prof. Beine.
Karl Lauterbach: „Auch fragen, ob das System verantwortlich ist“
„Unser Anliegen ist es“, so Prof. Beine, „ein Tabu,thema aufzugreifen, wissenschaftlich zu betrachten und auf Grund fundierter Ergebnisse zu einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion und – noch wichtiger – zu Lösungsansätzen zu kommen.“ Die Debatte ist entbrannt – aber ob es zu Lösungsansätzen kommt, fraglich. So meint der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, es handele sich mitnichten um eine wissenschaftliche Studie sondern um ein Debattenbuch.
Wenn man Prof. Beines Zahlen hochrechnet, gelangt man zu 21.000 Todesfällen im Jahr. Das hält Lauterbach für übertrieben. Dennoch freut er sich über das Buch, denn sonst werde immer nur von Einzelfällen gesprochen und nie hinterfragt, ob das System auch mit verantwortlich sei. Von einem Generalverdacht gegen das Gesundheitssystem will Lauterbach aber auch nichts wissen, etwa in dem Sinne, dass das System Erscheinungen wie den „Todespfleger“ Niels H. erst möglich gemacht habe. Nichtsdestotrotz seien die Bedingungen für Ärzte und Pfleger dringend verbesserungswürdig.
Deutsche Krankenhausgesellschaft verärgert über das Buch
Verärgert ist der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Thomas Reumann. Zu den 21.000 vermuteten Todesfällen erklärt er: „Dies ist eine unverantwortliche Behauptung, die als völlig unseriös zurückzuweisen ist. Selbst der Autor rudert mittlerweile zurück.“ In einem Beitrag der ‘Welt am Sonntag‘ stellte Prof. Beine tatsächlich in Frage, ob seine Befragung von den Teilnehmern richtig verstanden wurde. „Seine ‘empirische Schätzung‘ unterscheidet offensichtlich nicht zwischen der Begleitung von Sterbenden und Töten“, wundert sich Reumann. „Der palliativmedizinische Ansatz wird hier diskreditiert.“
Dass es wirtschaftlichen Druck im Krankenhaus wie in allen sozialen Bereichen gibt, muss auch Reumann zugeben. „Damit gehen die Krankenhäuser und die Ärzte und Pflegekräfte aber professionell und verantwortungsvoll um. Die Tötungsbehauptung aufgrund wirtschaftlichen Drucks ist eine unverantwortliche Effekthascherei mit gezieltem Schlechtreden auf Kosten von Pflegekräften. Ausgerechnet eine Berufsgruppe wird so unter Generalverdacht gestellt, die sich durch Empathie und die Sorge um das Wohlergehen kranker Menschen jeden Tag verdient macht.“
Quelle: idw, SWR aktuell, DKG