Die Objektbeschreibung des Seniorenhauses, in dem sich furchtbarste Dinge ereignet haben sollen, liest sich glatt wie aus einem Reisekatalog. „Eingebettet in die grünen Hügel Oberbayerns und mit einem großen Park von Bedeutung ausgestattet, bietet das RSA von Schliersee 142 Betten, verteilt auf Einzel- und Doppelzimmer, alle mit TV und eigenem Bad ausgestattet“, heißt es im Portrait-Text des Heimträgers, der auf mehreren Pflegeplatz-Portalen zu lesen ist.
Von einem „hervorragenden Niveau des Gesundheitswesens“ in der Einrichtung ist in der Eigenbeschreibung die Rede. Das Essen: à la carte und vier Mahlzeiten, mit Kaffee und Kuchen, auf Wunsch auch vegetarisch oder Schonkost. Und auch das Drumherum könne sich sehen lassen: „Der große Park, der zum Bauwerk gehört, und der 500 Meter entfernte See bieten Gästen eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Erholung.“ Auch der bayerische Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) schien noch im Juni 2019 bei seiner routinemäßigen Prüfung regelrecht angetan. Er vergab die Gesamtnote 1,2 ans Heim; in den beiden Kategorien „Soziale Betreuung und Alltagsgestaltung“ sowie „Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene“ sogar die Bestnote 1,0.
88 Verdachtsfälle auf Körperverletzung – 17 Todesfälle werden nachträglich überprüft
Es drängt sich die Frage auf, welches Pflegeheim der MDK da tatsächlich besucht haben mag. Denn in Wirklichkeit mussten in der Seniorenresidenz Schliersee in der gleichnamigen Gemeinde, vor den angesprochenen grünen Hügeln des bayerischen Alpenvorlands, Senioren laut übereinstimmender Schilderungen über Jahre menschenunwürdig vor sich hin vegetieren. Etliche Bewohner sollen – fast oder tatsächlich – verhungert und verdurstet sein. Laut der Aussagen von ehemaligen Mitarbeitern und Angehörigen sei die Bewohnerschaft unterernährt, verwahrlost und über Monate vernachlässigt gewesen, das Personal chronisch unterbesetzt.
Die Staatsanwaltschaft München II ermittelt wegen 88 Fällen des Verdachts auf Körperverletzung. Auch 17 Todesfälle wollen die Ermittler im Nachhinein prüfen. Dabei geht es darum, ob die gravierenden Pflegemängel ursächlich für den Tod der Bewohner waren. Im Zentrum der Ermittlungen stehen vier Personen, darunter auch die frühere Einrichtungsleitung.
Schon seit Jahren hatte das Pflegeheim in der Region einen schlechten Ruf. Die Trägerschaft wechselte über die Jahre mehrfach; seit 2019 liegt sie bei einem italienischen Heimbetreiber. Wie ein Angehöriger dem „Münchner Merkur“ berichtete, hätten sich ab Ende 2018 die Zustände spürbar verschlechtert. Personal-Fluktuation habe eingesetzt und die Sauberkeit nachgelassen, dafür aber habe der ab 2019 neue Betreiber als eine der quasi ersten Amtshandlungen den Beitrag sowie die Nebenkosten kräftig erhöht. Endgültig aktenkundig wurden die Zustände schließlich durch Corona: Nach einem Ausbruch des Virus im Heim im April 2020, bei dem letztlich fünf Bewohner starben, stießen die zur Versorgung und Quarantäne-Sicherung ins Heim geeilten Fachkräfte auf unterernährte Bewohner, Schimmel und Schmutz, kaputte Zimmerheizungen, mit Exkrementen verunreinigte Betten sowie fehlerhaft gekennzeichnete oder nicht mehr haltbare Hilfs- und Desinfektionsmittel.
Keine Hilfe für Bewohner beim Essen und Trinken – Bewohnerin starb an Folgen von Vergewaltigung
Mehr als 100 Angehörige, ehemalige Mitarbeiter und frühere Bewohner berichteten dem Bayerischen Rundfunk über die desaströsen Zustände. So seien Essen und Trinken etwa einfach ins Zimmer gestellt worden. Konnten die Bewohner nicht aus eigener Kraft Nahrung und Flüssigkeit aufnehmen, hätten die Pflegekräfte das Tablett einfach wieder abgeräumt. Durch fehlende Lagerung sei es bei den Pflegebedürftigen zu Druckgeschwüren, deformierten Füßen und nicht ausreichend versorgten Wunden gekommen.
Schlagzeilen machte auch die Vergewaltigung einer Bewohnerin durch einen dementen Mitbewohner im Sommer 2020, an der durch sie ausgelösten Verletzungen sie zehn Tage nach der Tat im Krankenhaus verstarb. Das Heim habe laut des hinterbliebenen Sohnes zunächst telefonisch behauptet, die Seniorin habe sich in der Zimmertür geirrt. Der Bewohner habe sie, die vermeintliche „Einbrecherin“, dann im Affekt und in seinem verwirrten Zustand angegriffen.
Laut des Landratsamts des Kreises Miesbach, zu dem die Gemeinde Schliersee gehört, habe man schon lange vor Corona von den Missständen gewusst. So seien Trinkprotokolle teils fehlerhaft, die Personallisten unvollständig geführt und sogar Hilfe-Rufglocken in den Bewohnerzimmern defekt gewesen. Man habe das Heim trotzdem nicht geschlossen – weil die Gefahr bestand, dass ein Großteil der Bewohner die Verlegung nicht überlebe. Stattdessen verhängte der Kreis im Mai 2020 „nur“ einen Aufnahmestopp. Übrigens: Die Einrichtung ist bis zum heutigen Tage (Stand: 7.4.2021) geöffnet.
Quelle: merkur.de, br.de, morgenpost.de, rtl.de, pflegesuche.de