Schmerzensgeld
Erleich­te­rung: Die Kranken­schwes­ter muss doch kein Schmer­zens­geld in Höhe von 1 Million Euro zahlen.(Symbolbild) Bild: Monkey Business Images/Dreamstime.com

Kein Schmer­zens­geld trotz Schwer­be­hin­de­rung

Im Fall einer Schmer­zens­geld­zah­lung vor dem Hessi­schen Oberlan­des­ge­richt in Frank­furt geht es um einen mittler­weile 12-jähri­gen Jungen, der nach einer eigent­lich routi­ne­mä­ßi­gen intra­ve­nö­sen Medika­men­ten­gabe heute schwer­be­hin­dert ist.

Der damals fast zweijäh­rige Junge wurde im Dezem­ber 2011 wegen obstruk­ti­ver Bronchi­tis, einer drohen­den respi­ra­to­ri­schen Insuf­fi­zi­enz und eines Verdachts auf Bronchopneu­mo­nie und fieber­haf­ten Infekt statio­när behan­delt.

Am 26.12.2011 setzte ein Beleg­arzt – der zuvor ebenfalls beklagt wurde – eine Dauer­tropf­in­fu­sion aus, weil sich der Gesund­heits­zu­stand des Jungen verbes­sert hatte. Der Arzt verord­nete eine Weiter­füh­rung der intra­ve­nö­sen Antibiose, die regel­mä­ßig vom Pflege­fach­per­so­nal durch­ge­führt werden sollte. Bei einer dieser intra­ve­nö­sen Medika­men­ten­ga­ben kam es zum besag­ten Vorfall.

Was war gesche­hen?

Die Kinder­kran­ken­schwes­ter betrat das Zimmer des Jungen. Der habe gerade Äpfel und Chips geges­sen, weshalb die Mutter des Jungen die Kranken­schwes­ter darum gebeten habe, mit der Injek­tion noch zu warten.

Dem kam die Kranken­schwes­ter jedoch nicht nach und verab­reichte sofort das Antibio­ti­kum und spülte mit Kochsalz­lö­sung nach. Der Junge schrie und wurde kurz darauf bewusst­los. Er hatte sich am Essen verschluckt und keine Luft mehr bekom­men.

Die Kranken­schwes­ter nahm ihn kopfüber und versuchte, das Essen heraus­zu­schüt­teln – aller­dings verge­bens. Der Junge erlitt einen hypoxi­schen Hirnscha­den und wird für immer ein Pflege­fall bleiben. Er leidet zudem an infan­ti­ler Zerebral­pa­rese, Epilep­sie, Tetras­pas­tik, einer Hüftlu­xa­tion, Schluck­stö­run­gen, einer Sehbe­ein­träch­ti­gung und Intel­li­genz­min­de­rung.

Im erstin­stanz­li­chen Urteil vor dem Landge­richt Limburg sprach die Kammer dem Jungen noch ein Schmer­zens­geld von einer Million Euro zu. Jetzt soll dieses Geld jedoch nicht mehr bei ihm und seiner Familie ankom­men.

Doch kein grober Behand­lungs­feh­ler?

Das Oberlan­des­ge­richt in Frank­furt revidierte das Urteil, bei dem neben der Kinder­kran­ken­schwes­ter auch die Kinder­be­leg­kli­nik und die zum Zeitpunkt des Vorfalls im Dienst befind­li­che Beleg­ärz­tin zur Zahlung des Schmer­zens­gel­des verur­teilt wurden. Im Gegen­satz zur ersten Instanz konnte das Gericht keinen grob fehler­haf­ten Verstoß gegen Sorgfalts­pflich­ten feststel­len.

Die weitere Beweis­auf­nahme hat ergeben, dass für keine der Beklag­ten eine Grund­lage für eine Schadens­er­satz­pflicht oder für Schmer­zens­geld besteht. Das Verhal­ten der Kranken­schwes­ter war zwar nicht durch­weg fachge­recht. Einen haftungs­be­grün­den­den Behand­lungs­feh­ler konnte man ihr aller­dings nicht nachwei­sen.

Bei der intra­ve­nö­sen Gabe von Medika­men­ten handelt es sich um eine täglich wieder­keh­rende Standard­auf­gabe ohne größere Schwie­rig­kei­ten, die ohne beson­dere Zusatz­an­for­de­run­gen routi­ne­mä­ßig von hinrei­chend berufs­er­fah­re­nen ausge­bil­de­ten Kinder­kran­ken­schwes­tern ausge­führt werden darf.

Ärztli­che Delega­tion der Antibiose ist zuläs­sig

Aus diesem Grund greife die Argumen­ta­tion der Kläger­seite nicht, dass die ärztli­che Delega­tion der intra­ve­nö­sen Medika­men­ten­gabe an die Pflege­fach­kräfte unzuläs­sig sei. Auch die Forde­rung nach einem zusätz­li­chen Quali­fi­ka­ti­ons­nach­weis des Pflege­fach­per­so­nals gelte für die in diesem Fall durch­ge­führte Antibiose nicht.

Die beklagte Kinder­kran­ken­schwes­ter war also in jedem Fall dazu befähigt die Behand­lung durch­zu­füh­ren. Sie musste ledig­lich die nach § 630a Absatz 2 BGB allge­mei­nen anerkann­ten fachli­chen Standards berück­sich­ti­gen, vor allem auch um das Aspira­ti­ons­ri­siko (Risiko vor Ersti­ckung) zu senken.

Aspira­ti­ons­ri­siko bei Klein­kin­dern jeder­zeit gegeben

Generell können Aspira­tio­nen nach Auffas­sung des Gerichts bei Klein­kin­dern in jeder Lebens­lage auftre­ten und somit auch bei praktisch jeder Behand­lungs- oder Pflege­maß­nahme.

Zusätz­li­che aufwän­dige Sicher­heits­maß­nah­men seien somit nicht notwen­dig und im Klinik­all­tag auch überhaupt nicht durch­führ­bar. Eine absolute Sicher­heit ist weder erreich­bar noch als Behand­lungs­stan­dard gefor­dert.

Es ist somit ausrei­chend, wenn die behan­delnde Person das betrof­fene Kind vor der Unter­su­chung 30 bis 60 Sekun­den lang beobach­tet, um dann eine Gefah­ren­lage abzuschät­zen. Länge­res Warten wäre nur dann geboten, wenn das Kind noch geges­sen hätte.

Äußere Hinweise darauf, dass das Kind zuvor etwas geges­sen haben könnte und deshalb noch Essens­reste im Mund habe, seien nicht ausrei­chend, um weitere Vorsichts­maß­nah­men zu ergrei­fen.

Aussa­gen der Mutter nicht überzeu­gend

Im Unter­schied zur ersten Instanz fand das Oberlan­des­ge­richt zudem die Schil­de­run­gen der Mutter nicht überzeu­gend. Es sei somit nicht davon auszu­ge­hen, dass die Mutter des Jungen die Kranken­schwes­ter vor der Behand­lung ausdrück­lich vor einer Ersti­ckungs­ge­fahr gewarnt und um eine Verschie­bung gebeten habe.

Zumin­dest in Bezug auf die Infusion sei die Kranken­schwes­ter deshalb fachge­recht vorge­gan­gen. Als behand­lungs­feh­ler­haft erwies sich jedoch ihre Reaktion auf die Ersti­ckung des Jungen. Da jedoch kein Kausal­zu­sam­men­hang ihres Fehlver­hal­tens und den späte­ren Gesund­heits­schä­den des Jungen bestün­den, komme eine Haftung nicht in Betracht.

Kein grober Behand­lungs­feh­ler erkenn­bar

Von einem groben Behand­lungs­feh­ler könne trotz Fehlver­hal­ten nicht gespro­chen werden. Ein solcher komme deshalb nicht in Betracht, da die Kranken­schwes­ter in dem Moment des Vorfalls nicht automa­tisch von einer Aspira­tion hätte ausge­hen können.

Rückbli­ckend habe sie zwar bei Betrach­tung der Begleit­um­stände (den verspeis­ten Chips oder dem für eine Ersti­ckung üblichen Ringen um Luft) an eine Ersti­ckung denken und somit Standard­maß­nah­men für solch einen Fall ergrei­fen können.

Die Erkennt­nisse zum Atemstill­stand des Jungen stammen jedoch aus späte­rer Betrach­tung und seien für die Kinder­kran­ken­schwes­ter zum Zeitpunkt des Gesche­hens nicht klar erkenn­bar gewesen.

Weder Ärztin noch Klinik haftbar

Die neben der Kranken­schwes­ter angeklagte Beleg­ärz­tin sowie die Klinik selbst sind ebenfalls nicht haftbar. Die Haftung der während des Vorfalls im Dienst befind­li­chen Beleg­ärz­tin schei­det deshalb aus, weil zwischen ihr und dem Kläger kein Behand­lungs­ver­trag geschlos­sen wurde.

Einzi­ger ärztli­cher Vertrags­part­ner war der vorher angeklagte Beleg­arzt. Daran hat sich auch mit Dienst­an­tritt der Beleg­ärz­tin nichts geändert. Zudem habe sich bei der Beleg­ärz­tin kein Behand­lungs­feh­ler gezeigt. Sie war in der Behand­lung des Jungen überhaupt nicht einge­bun­den.

Die Haftung der Klinik selbst schei­det ebenfalls aus, da unabhän­gig vom Verhal­ten der beklag­ten Kinder­kran­ken­schwes­ter keine Organi­sa­ti­ons­feh­ler ersicht­lich sind.

Quelle: OLG Frank­furt vom 25.4.2023 – 8 U 127/21