Als sich der Notfallsanitäter am 8. April 2021 um 7:30 Uhr telefonisch bei seiner Stammwache zum Arbeitsantritt meldet, wird sein „Dienst“ nicht mehr benötigt. Ein Kollege aus der Rufbereitschaft ist bereits für ihn eingesprungen und hat den Dienst in der Rettungswache P. übernommen, für den der Notfallsanitäter an diesem Donnerstag ab 6 Uhr eingeplant war.
Der Sanitäter weiß nicht, dass er für diesen Dienst eingeteilt worden ist, denn auf den Dienstplan hat er seit seinem letzten Feierabend am Dienstag nicht mehr geschaut. Dort war er um 19 Uhr noch als Springer für einen unkonkreten Tagdienst am 8. April eingetragen.
Am Mittwoch hatte er frei. Einen Anrufversuch seiner Arbeitgeberin an diesem freien Tag und eine SMS um 13:27 Uhr, die ihn über seine konkrete Einteilung für den nächsten Tag informierte, hat er nicht zur Kenntnis genommen.
Dienstplanänderung per SMS ignoriert, Arbeitsstunden kassiert
Die Arbeitgeberin, verantwortlich für den Rettungsdienst in fünf schleswig-holsteinischen Kreisen, nimmt nicht hin, dass der Sanitäter die Nachricht in seiner Freizeit nicht gelesen haben will – zumal es gemäß geltender Betriebsvereinbarung (BV) zulässig ist, einen noch unbestimmten Springer-Dienst bis um 20 Uhr des Vortages weiter zu konkretisieren.
Die Arbeitgeberin wertet den ausgefallenen Dienst somit als unentschuldigtes Fehlen, ermahnt den in Vollzeit beschäftigten Mitarbeiter mündlich und zieht ihm 11 Arbeitsstunden von seinem Zeitkonto ab.
Ein paar Monate später, im September passiert es wieder: Der Sanitäter nimmt Nachrichten zum Dienstplan nicht zur Kenntnis, weil seine Arbeitgeberin sie einem arbeitsfreien Tag schickt. Am nächsten Tag, dem 15. September, meldet er sich wieder zu spät und an falscher Stelle zum Arbeitsantritt, was in diesem Fall zu einem Abzug von 1,93 Arbeitsstunden auf dem Zeitkonto und einer schriftlichen Abmahnung führt.
Der Notfallsanitäter ist sich keiner Schuld bewusst. Seiner Ansicht nach ist er nicht verpflichtet, in seiner Freizeit zu überprüfen, ob sich nach Dienstschluss noch Änderungen im Dienstplan ergeben haben – was über ein spezielles Internettool namens „SelfService“ unkompliziert und ohne großen Zeitaufwand möglich wäre.
Ebenso wenig sieht er sich in der Pflicht, Weisungen seiner Arbeitgeberin, wie Dienstplanänderungen per SMS, außerhalb der Arbeitszeit entgegenzunehmen. Er reicht Klage beim Arbeitsgericht (ArbG) Elmshorn ein, um eine Wiedergutschrift der Arbeitsstunden und die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte zu erwirken.
Fall geht über 3 Instanzen
Das ArbG weist die Klage ab (Az.: 5 Ca 1023 a/21), der Notfallsanitäter legt Berufung ein. Die zweite Instanz, das Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein sieht den Fall anders und verurteilt die Arbeitgeberin zu einer Gutschrift von insgesamt 11,75 Arbeitsstunden und der Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte (Az.: 1 Sa 39 öD/22).
Die Arbeitgeberin begehrt daraufhin eine Revision, um das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) gibt der Revision mit seiner Entscheidung statt (Urteil vom 23. August 2023 – 5 AZR 349/22) und führt dazu die folgenden Gründe an:
1. Abzug von Arbeitsstunden zulässig
Die Arbeitgeberin ist befugt das Arbeitszeitkonto zu reduzieren, denn ein Anspruch des Notfallsanitäters auf eine Zeitgutschrift erfolgt nicht aus § 615 Satz 1, § 611a Absatz 2 in Verbindung mi §§ 293 ff. BGB in Verbindung mit § 3a Absatz 2 Satz 1, § 3d BV.
Eine Annahmeverzug der Arbeitgeberin liegt in diesem Fall nicht vor, da der Sanitäter die geschuldete Arbeitsleistung nicht wie erforderlich angeboten hat: am rechten Ort, zur rechten Zeit und in der rechten Art und Weise entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen und kraft Weisung nach § 106 Satz 1 GewO.
Kurz gesagt: Der Sanitäter hätte am 8. April und am 15. September pünktlich zum Dienst auf der Rettungswache P. erscheinen müssen. Das Arbeitszeitkonto ist daher nicht zu korrigieren.
Ein Anspruch kann auch aus § 326 Absatz 2 Satz 1 Alternative 1 BGB nicht resultieren, da die Arbeitgeberin die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung nicht zu verantworten hat.
2. Dienstplan darf bis 20 Uhr konkretisiert werden
Es liegt kein Abrufarbeitsverhältnis im Sinne des § 12 Absatz 3 TzBfG vor, dem eine Konkretisierung von Diensten entgegensteht.
Die Dienste des Sanitäters werden jährlich im Voraus festgelegt, eine Konkretisierung von Springer-Diensten auf einen Tag‑, Spät- oder Nachtdienst muss dabei gemäß § 4f BV spätestens 4 Tage im Voraus erfolgen. Wenn ein genauer Dienstbeginn und Einsatzort zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt werden kann, sieht § 4f Absatz 8 BV vor, dass dies bis 20 Uhr des Vortages geschehen kann.
3. Mitbestimmung Betriebsrat gewahrt
Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates gemäß § 87 Absatz 1 Nummer 2 BetrVG bei der Entwicklung und Aufstellung der Dienstpläne wurde hier gewahrt.
Ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Absatz 1 Nummer 14 BetrVG besteht nicht, da es sich im Streitfall nicht um die Ausgestaltung mobiler Arbeit hinsichtlich Kommunikations- und Informationsmittel dreht, sondern um die Arbeitszeit.
4. Nebenpflicht zur Kenntnisnahme in der Freizeit
Der Sanitäter kann sich nicht darauf berufen, von den Dienstplanänderungen nichts gewusst zu haben. Aus seinem Vertragsverhältnis, welches sich aus dem TVöD-VKA und der BV ergibt, obliegt ihm nämlich eine Nebenleistungspflicht, nach der er zur Kenntnis nehmen muss, wenn ihm ein Dienst zugeteilt wird (hier: per SMS).
Entgegen der rechtsfehlerhaften Auffassung des LAG muss er das auch in seiner Freizeit tun, damit leistungssichernde Maßnahmen im Sinne des § 241 Absatz 2 BGB gewährleistet sind.
Diese Nebenpflicht bedeutet allerdings nicht, dass der Sanitäter – wie von ihm angenommen – ununterbrochen für seine Arbeitgeberin erreichbar sein oder auf Nachrichten antworten muss. Es bleibt ihm überlassen, wann in seiner Freizeit er solche Nachrichten zur Kenntnis nimmt – er muss es aber tun.
Das BAG sieht bei dieser leistungssichernden Nebenpflicht auch keine Kollision mit dem Arbeitszeitgesetz und der Richtlinie 2003/88/EG, da es nicht unter Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinn fällt, wenn ein Mitarbeiter eine Nachricht zur Kenntnis nimmt.
5. Freizeitplanung nicht eingeschränkt
Der Sanitäter sieht sich aufgrund der Betriebsvereinbarung (BV) in seiner Freizeitplanung eingeschränkt, was nach Ansicht der BAG-Richter nicht zutrifft und auch nicht berücksichtigt werden kann, wenn es sich bei diesen Einschränkungen um organisatorische Schwierigkeiten handelt, die natürlichen Gegebenheiten oder der freien Entscheidung unterliegen.
Ebenso wenig teilen die Richter die Auffassung des Sanitäters, nach der eine 24-stündige Rufbereitschaft vergleichsweise weniger Einschränkung in der Freizeit bedeutet als ein Springer-Dienst, der spätestens 4 Tage vorher auf einen Tag‑, Spät- oder Nachtdienst konkretisiert werden muss.
6. Abmahnung rechtens
Die Abmahnung wegen unentschuldigtem Fehlen ist vor diesem Hintergrund rechtmäßig. Die Entfernung aus seiner Personalakte gemäß §§ 242, 1004 Absatz 1 Satz BGB darf sich der säumige Notfallsanitäter somit ebenfalls abschminken.
Was sagen Sie zu diesem Fall? Können Sie die Entscheidung des BAG nachvollziehen oder hätten Sie dem Sanitäter Recht gegeben? Wir freuen uns auf Ihren Kommentar!