Kurze Wege an der frischen Luft mit dem Fuß und dem Fahrrad, statt lange Fahrzeiten, Terminstress, Parkplatzsuche und Knöllchen. Und eine Zusammenarbeit nicht nur der ambulanten Pflegedienste untereinander, sondern auch mit Ärzten, Apotheken und sonstigen Gesundheits-Dienstleistern, Sport‑, Kultur- und Nachbarschaftsvereinen, Pfarrgemeinden und Seelsorgern sowie unzähligen weiteren Partnern. Dies ist der Weg, der momentan in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden Schule macht!
Die meisten Wege werden mit Fahrrädern erledigt
Und die Zufriedenheit ist auf allen Seiten hoch – die betreuten zu Pflegenden, die durch die kurzen Wege in Minutenschnelle eine Pflegekraft anfordern können, als auch bei den Beschäftigten. „Wir sitzen im Sommer draußen zusammen, trinken Tee oder Kaffee. Wir müssen eben nicht mehr quer durch die ganze Stadt fahren und im Stau stehen“, schwärmt Torsten Anstädt, der Geschäftsführer und Mitbegründer der humaQ gGmbH, deren Name für „Humanität im Quartier“ steht und welche die Vernetzung in Quartiere mit vorantreibt.
Die ambulante Pflege als solche werde in den kommenden Jahren und Jahrzehnten deutlich an Bedeutung gewinnen: Schon heute würden rund 830.000 Menschen von ambulanten Pflegediensten versorgt – zusätzlich zu den 1,76 Millionen, bei denen allein Angehörige die Betreuung übernehmen. „Und alleine rund 900 Menschen erhalten täglich im deutschsprachigen Raum ihre Demenz-Diagnose.“
Pflege: Konzentration auf das eigene Viertel
Der Grundgedanke ist einfach: Anstatt, wie bisher, Pflegedienste durch die ganze Stadt (und das Umland) zu schicken, konzentrieren sich die vor Ort ansässigen Pflegedienste auf ihr eigenes Quartier. „Das Quartier ist nicht der Stadtteil, sondern der Sozialraum, der Kiez, in dem Du lebst“, so Anstädt. Maximal zehn Personen arbeiteten in der lokalen Versorgung zusammen.
„Wir brauchen im Prinzip nur Fahrräder. Der Löwenanteil der Besuche bei den zu Betreuenden wird mittlerweile per Rad gemacht, oder sogar zu Fuß. Autos brauchen wir im Prinzip nur noch für Arztfahrten oder größere Transporte.“ Die Entlastung von Parkplatz-Suchstress, Strafzettel-Angst und dichten Terminplänen, sowie der wohltuende Effekt des körperlichen Trainings durch die zusätzliche Bewegung, mache sich im Betriebsklima deutlich bemerkbar.
Mit „Mini-Netzwerk“ aus zwei Institutionen ging’s los
Um 2016 fing die Quartiersarbeit an, erinnert sich Anstädt. „Damals gründete sich ein Mini-Netzwerk vor Ort, aus einem privaten ambulanten Pflegedienst und einem evangelisch-freigemeinnützigen Träger. Man sagte sich: Wir haben unterschiedliche Kompetenzen, aber ein gemeinsames Ziel – die Menschen optimal zu versorgen.“
Nach und nach schlossen sich weitere Institutionen an; weitere Quartiere bildeten sich. Anfangs herrschte hier und da Skepsis vor, ob das neue Modell etwas bringe. „Aber spätestens nach drei, vier Jahren haben die anderen Einrichtungen gesehen, dass da wirklich etwas läuft. Man kann sagen: Ein Quartier braucht seine Zeit; nichts geht von heute auf morgen.“ Auch durch die Unterstützung der Stadt Wiesbaden, die das Potenzial der Pflegenetzwerke vor Ort erkannt. „Die Stadt hat uns die Plattform zur Verfügung gestellt, über die die Vernetzung läuft.“
Vernetzung mit anderen Trägern
Typischerweise zwischen 5.000 und 25.000 Einwohnern groß, können diese Quartiere Teilbereiche eines innerstädtischen Stadtteils, aber auch mehrere benachbarte kleine Dörfer im Umland – in diesem Fall von Wiesbaden – sein. Und nicht nur die Konzentration auf die lokale Umgebung zeichnet das Modell aus, sondern auch und gerade die interdisziplinäre Vernetzung mit weiteren Trägern inner- und außerhalb des Gesundheits- und Pflegewesens. Die sich austauschen und in der Versorgung kooperieren.
Hierzu gibt es häufig von den federführenden Vereinen in den Stadtquartieren initiierte Begegnungsstätten im Quartier, mit Mobilitätsangeboten, Einkaufsdiensten, Angeboten rund um Nachbarschafts- und Alltagshilfe, Seelsorge und Beratung in allen Lebenslagen, lokalem Gewerbe und Veranstaltungen. Auch haushaltsnahe Dienstleistungen wie Putzen werden vermittelt. Um auch fremdsprachige Bewohnerinnen und Bewohner einzubinden, gibt es Personal und Infomaterial in verschiedenen Sprachen. „Unsere Begegnungsstätte und das Restaurant-Café sind für das ganze Quartier geöffnet. Auch Familien kommen zunehmend, wegen unserer integrierten Eisdiele“, erzählt Anstädt schmunzelnd.
Etliche Kommunen schauen sich das Modell an
Und inzwischen stoße das Modell auf weit überregionales Interesse, wie Anstädt beobachtet hat. „Wir haben inzwischen sogar eine Art Quartierstourismus bei uns. Monatlich sind Vertreter mehrerer Kommunen bei uns zu Besuch, aus der ganzen Republik: Von Hannover und Potsdam bis hinunter zur Bodensee-Region.“ Man sei daran interessiert, dass sich vergleichbare Quartiere in ganz Deutschland entwickeln. „Das können wir natürlich nicht selbst, aber wir können Hilfe dabei leisten und sagen, auf was man achten muss und welche Fehler sich vermeiden lassen.“ Um das Modell in der ganzen Republik zu verbreiten, sei derzeit eine Bundesarbeitsgemeinschaft Quartier in Gründung.