Sachverhalt
Die 1929 geborene Patientin wurde im Jahr 2011 wegen eines Schwächeanfalls in das Hospital in Winterberg stationär eingewiesen. Die unter Demenz leidende Frau zeigte sich am Tag ihrer Aufnahme sehr agressiv, unruhig, verwirrt und desorientiert. Zudem zeigte sie Weglauftendenzen und wollte die Station verlassen.
Auch die Medikamentengabe von Melperon und Haldol konnte die Patientin nicht beruhigen, sodass die diensthabenden Krankenpflegerinnen sich anders zu helfen versuchten. Sie stellten außen vor die sich nach innen öffnende Tür ein Krankenbett, um so die Patientin am Weglaufen zu hindern. Zudem wurden ihr weitere 20 ml Melperon zur Beruhigung verabreicht.
Diese Maßnahme konnte sie jedoch nicht vor ihrem Sprung aus dem Fenster schützen. Am Abend kletterte sie unbemerkt aus dem Zimmerfenster, stürzte in die Teife auf das nächste Vordach und erlitt erhebliche Verletzungen, insbesondere Frakturen der Rippen, des Beckenrings und des Oberschenkels.
Sie wurde in ein Universitätsklinikum verlegt und operativ behandelt. Etwa sechs Wochen später verstarb die Patientin im Pflegeheim.
Die private Krankenversicherung der Patientin hat gegen die Klinik geklagt und den Ersatz der unfallbedingten Kosten begehrt. Das Landgericht Arnsberg hat diese Klage in erster Instanz abgewiesen (Az.: 5 O 22/14). Die Klägerin hat Berufung eingelegt und forderte einen Betrag in Höhe von 93.309,93 Euro zuzüglich Zinsen sowie die Zahlung der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Als Gründe wurden angeführt, dass eine Umstellung der Medikation hätte erfolgen müssen, zudem seien die Sicherheitsmaßnahmen unzureichend gewesen. Außerdem hätte die Patientin nicht auf eine allgemeine internistische Abteilung kommen dürfen. Der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat erneut über den Fall entschieden.
Entscheidung
Eine medikamentös falsche Behandlung konnte nicht festgestellt werden. Da die Patientin aggressiv sowie verwirrt war und weglaufen wollte, wurden entsprechende Sedierungsmaßnahmen ergriffen. Auch das Umstellen auf andere Medikamente hätte nicht zwingend erfolgen müssen, da Neuroleptika ohnehin änhlich wirken. Ein anderes Medikament hätte also mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso wenig seine Wirkung gezeigt.
Feststeht jedoch, dass gegen die Verkehrssicherungspflicht sowie gegen die Pflichten aus dem Behandlungsvertrag verstoßen wurde. Es hätten Maßnahmen gegen ein Hinaussteigen aus dem Fenster ergriffen werden müssen.
Durch die Aufnahme der Patientin auf die Station entsteht eine vertragliche Fürsorgepflicht des Krankenhauses. Nicht nur eine entsprechende ärztliche Behandlung muss erfolgen, sondern auch Obhuts- und Schutzpflichten müssen eingehalten werden.
Die Frage ist, ob ernsthaft mit einem Sprung aus dem Fenster hätte gerechnet werden müssen. Da das aggressive und verwirrte Verhalten erkannt wurde, ebenso wie der Wille zum Weglaufen, ist dies in diesem Fall zu bestätigen. Sicherungsmaßnahmen wären möglich und zumutbar gewesen, so hätte man beispielsweise den Stuhl vor dem Fenster entfernen können, der das Hinaussteigen deutlich vereinfachte. Der personelle Mangel auf der Station macht das Geschehen zwar nachvollziehbar, jedoch kann der Beklagte dadurch nicht entlastet werden.
Dem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 17. Januar 2017 zufolge (Az.: 26 U 30/16) hat die Berufung der Klägerin also Erfolg, die Ersatzansprüche stehen der Klägerin gemäß §§ 611, 278, 280, 823, 831 und 249 ff. BGB in voller Höhe zu. Eine Revision ist nicht zugelassen.
Quelle: OLG Hamm
1 Kommentar
Als ich anfing den Artikel zu lesen dachte ich, es ginge um ein Strafverfahren – etwa wegen Totschlags durch Unterlassung oder Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Aber nein: Es ist ein Zivilprozess um Schadensersatz wegen „unfallbedingter Kosten“ für die Krankenkasse! Was sagt das über das Menschenbild in unserer Gesellschaft gegenüber Demenzerkrankten aus? Fallen Pflegefehler, die zum Tod von dementen Menschen führen, bald nur noch unter „Sachbeschädigung“?