Delir
Ein Delir wird von vielen Betrof­fe­nen als „Neben im Kopf“ beschrie­ben. Bild: Reactive Robotics

Was ist ein Delir?

Ein Delir ist eine akute Verwirrt­heit, die sich durch Störun­gen des Bewusst­seins und der Wahrneh­mung äußert. Es gibt zwei Haupt­for­men des Delirs:

  1. Hypoak­ti­ves Delir: Die Betrof­fe­nen sind ruhig, ziehen sich zurück und wirken apathisch.
  2. Hyper­ak­ti­ves Delir: Diese Form ist durch Unruhe, Lautstärke und rastlo­ses Verhal­ten gekenn­zeich­net.

Beson­ders kritisch ist, dass ein Delir nicht nur während der akuten Phase erheb­li­che Auswir­kun­gen hat. Es erhöht langfris­tig die Sterb­lich­keit des Patien­ten, kann bleibende kogni­tive Einschrän­kun­gen hinter­las­sen und die Dauer der Pflege­be­dürf­tig­keit verlän­gern.

Warum sind Inten­siv­pa­ti­en­ten beson­ders gefähr­det?

Das Delir ist eine häufige und schwer­wie­gende Kompli­ka­tion auf Inten­siv­sta­tio­nen, die bis zu 80 Prozent der beatme­ten Patien­ten betrifft. Oft beschrei­ben Betrof­fene es als „Nebel im Kopf“ – einen Zustand, der schwer greif­bar ist und sich wie ein Traum anfühlt, aus dem sie nicht erwachen können. Trotz seiner Häufig­keit bleibt ein Delir oft unerkannt: Rund 40 Prozent der Fälle werden in der Praxis nicht recht­zei­tig diagnos­ti­ziert.

Die Ursachen eines Delirs sind vielfäl­tig. Bislang wurden über 130 Risiko­fak­to­ren identi­fi­ziert. Beson­ders betrof­fen sind ältere Menschen und Patien­ten mit Vorer­kran­kun­gen wie Gefäß­er­kran­kun­gen, Stoff­wech­sel­stö­run­gen oder Gebrech­lich­keit. Aber auch akute Auslö­ser wie Hypoxie (Sauer­stoff­man­gel), Infek­tio­nen, bestimmte Medika­mente und Traumata können die Ursache sein. Inten­siv­pa­ti­en­ten sind häufig in einem Ausnah­me­zu­stand: Narko­sen, starke Schmerz­mit­tel und die physi­sche Belas­tung durch schwere Erkran­kun­gen oder Verlet­zun­gen schaf­fen eine Umgebung, die ein Delir begüns­tigt.

Präven­tion und Behand­lung: Frühmo­bi­li­sa­tion als Schlüs­sel

Ein effek­ti­ves Delir­ma­nage­ment setzt auf Präven­tion. Die S3-Leitli­nie [PDF] empfiehlt regel­mä­ßige Überwa­chung, die Förde­rung des Tag-Nacht-Rhyth­mus und die Einbin­dung von Angehö­ri­gen. Frühmo­bi­li­sa­tion, die meist inner­halb von 72 Stunden beginnt, ist dabei essen­zi­ell.

Sie senkt das Delir­ri­siko, verbes­sert die Gehirn­durch­blu­tung und stabi­li­siert den Stoff­wech­sel. Doch wie erleben das die Betrof­fe­nen?

„Ich wusste, dass ich im Delir bin, aber ich konnte nichts tun“ – Julia N. erzählt

Selbst wer strikt nach Anwei­sun­gen handelt, hat keine Garan­tie auf ein bestimm­tes Ergeb­nis. Die Medizin zeigt immer wieder, wie unter­schied­lich Patien­ten auf mögli­che Behand­lun­gen reagie­ren können. Das weiß auch Julia N. Sie ist Fachpfle­ge­rin für Anästhe­sie und Inten­siv­me­di­zin, derzeit studiert sie neben­be­ruf­lich Medizin Pädago­gik und hat selbst nach einem schwe­ren Verkehrs­un­fall ein Delir durch­lebt.

Vor etwa drei Jahren, im April 2022, erlitt Julia N. einen schwe­ren Autoun­fall, der sie für insge­samt zweiein­halb Wochen auf die Inten­siv­sta­tion brachte. Ihre Haupt­dia­gnose war ein schwe­res abdomi­nel­les Trauma mit darauf­fol­gen­den­der Sepsis. Im Inter­view erzählt sie von ihren Erleb­nis­sen.

Reactive Robotics: Was ist passiert?

Julia N.: Kurz nach dem Unfall wurde ich notope­riert und verbrachte drei Tage auf der Inten­siv­sta­tion. Es schien, als sei vorerst alles gut gegan­gen, und mit dieser OP wäre der Haupt­teil der Thera­pie geschafft . Doch auf der Normal­sta­tion rutschte ich in eine Sepsis, ausge­löst durch eine Anasto­mo­sen­in­suf­fi­zi­enz (Nahtun­dich­tig­keit) im operier­ten Bereich. Eine weitere Not-OP war nötig, gefolgt von einem länge­ren Inten­siv­auf­ent­halt, einem künst­li­chen Koma und schließ­lich einem Delir.

Delir
Nach einem schwe­ren Autofall gerät Julian N. in ein Delir. Bild: Privat

„Ich konnte alles bewusst wahrneh­men“

Reactive Robotics: Woran kannst du dich bewusst als Erstes erinnern?

Julia N.: Das ist einfach: an den Besuch meiner Eltern und meines jetzi­gen Mannes, ein paar Tage nach meiner ersten OP. Alles davor ist verschwom­men. Ich weiß nicht, ob ich davor im künst­li­chen Koma oder wach war. Aber dieser Besuch – das war am Sonntag nach meinem Unfall, der am Freitag war – bleibt mir in Erinne­rung. Ich war wach und konnte alles bewusst wahrneh­men.

Reactive Robotics: Wie würdest du das Delir beschrei­ben?

Julia N.: Es ist wie ein Alptraum, aus dem man nicht aufwa­chen kann. Der schlimmste Moment, bei dem ein Alptraum normal abrupt endet, muss im Delir quasi aktiv durch­lebt werden und zieht sich schein­bar endlos in die Länge. Ich glaube, das sind die Phasen, in denen man an Kathe­tern und Zugän­gen zieht, weil man Angst hat und völlig orien­tie­rungs­los ist. Die Sepsis, mein Schädel-Hirn-Trauma und die vielen Medika­mente und Narko­sen haben mich wohl ins Delir rutschen lassen.

Ich hatte ein hyper­ak­ti­ves Delir, konnte mich aber kaum bewegen. Ich war wie in mein Bett betoniert – durch die Schmer­zen und meinen offenen Bauch­raum. Die wachen Momente, in denen mir klar war, dass ich im Delir bin, wechsel­ten ständig mit den desori­en­tier­ten.

Reactive Robotics: Was hat dir gehol­fen?

Julia N.: Was ich immer wahrneh­men konnte, war meine Familie. Obwohl ich weder Zeit noch Raum wahrneh­men konnte, spürte ich, wenn sie da waren – selbst wenn ich sie nur hörte. Das gab mir Halt. Zusätz­lich war es mir extrem wichtig, dass das Radio an war, es gab mir das Gefühl, an der Außen­welt teilneh­men zu können. Andere Geräu­sche wie Alarme oder Stati­ons­ge­räu­sche habe ich gar nicht regis­triert, aber Stille hätte ich nicht ertra­gen.

Mobili­sa­tion im Delir

Reactive Robotics: Wie hast du die Mobili­sa­tion erlebt?

Julia N.: Das ist schwer zu sagen. In der Anfangs­phase wurde viel mit mir gemacht, aber wegen der Schmer­zen ist vieles verschwom­men. An eine Situa­tion erinnere ich mich aber genau: Ich saß auf einem Mobili­sa­ti­ons­stuhl und hatte das Gefühl, er würde sich hoch und runter bewegen. Ich wusste, dass es eine Hallu­zi­na­tion war, dennoch habe ich mich bei meiner Mutter rückver­si­chert, dass sich der Stuhl nicht bewegt.

Reactive Robotics: Wie stehst du als Fachkraft mit deiner Erfah­rung heute zu Delir-Präven­ti­ons­maß­nah­men?

Julia N.: Es gibt keine einheit­li­che Antwort. Jeder Fall ist anders. Ein Psycho­loge hat mir erklärt, dass zum Beispiel bei schwe­ren Kopfver­let­zun­gen und Delir visuelle Reize kaum wahrge­nom­men werden können, so können hier Tafeln mit Datum und Uhrzeit für die Orien­tie­rung nicht viel bewir­ken. In anderen Situa­tio­nen eventu­ell schon. Am wichtigs­ten sind Besuche von Angehö­ri­gen. Diese haben mir am meisten gehol­fen.

Reactive Robotics: Was ist dein Tipp?

Julia N.: Radio an, aber nur, wenn es den Patien­ten nicht stresst. Aber im Ernst: Ruhe bewah­ren und auf den Patien­ten einge­hen.

Reactive Robotics: Was möchtest du anderen mitge­ben?

Julia N.: Achtsam­keit. Ich erinnere mich, wie ein Arzt zu meiner Mutter sagte, die nächste OP sei meine letzte Chance. Ich habe das gehört und verstan­den. Auch wenn man denkt, der Patient bekommt nichts mit, kann das doch der Fall sein. Und noch etwas: Ein Delir ist oft mit Scham verbun­den. Ich habe mich danach geschämt für Dinge, die ich gesagt oder getan habe. Das sollte man berück­sich­ti­gen.“

Reactive Robotics: Dein Wunsch für die Zukunft?“

Julia N.: Wertschät­zung – für die Patient:innen und das Perso­nal. Das ist die Grund­lage für vieles. Und leider fehlt diese derzeit oft auf beiden Seiten.