Rechtsdepesche: Herr Bohlen, Deutschland boostert sich gegen die vierte Welle und die Inzidenzen sind zwischenzeitlich etwas gesunken. Mission erfolgreich?
PD Dr. Heribert Bohlen: Gegen Delta? Ja! Aber die Zahlen sind trügerisch. Wir haben die Omikron-Welle noch vor dem Bug. Deshalb müssen wir konsequent weiter boostern, um für genügend T‑Zellen-Immunität gegen diese Variante zu sorgen. Denn ohne Auffrischungsimpfung sind die neutralisierenden Antikörper unzureichend.
Rechtsdepesche: Sie sind selbst aktiv bei der aktuellen Impfkampagne, haben aber auch eine Firma, die Funktionalisierungssysteme auf RNA-Basis erforscht. Spielen Sie da in einer Liga mit BioNtech oder worauf liegt Ihr Fokus?
Bohlen: Nein, das wäre vermessen. Biontech hat glaube ich ein paar tausend Mitarbeiter, wir eine Hand voll. Was wir aber getan haben: Wir haben eine neuartige mRNA entwickelt, die wir in jedweder spezifischen Zielzelle aktivieren können, abhängig von deren genetischem Fingerprint. Während die normalen mRNA in jeder Zelle abgelesen werden, wird unsere neuartige mRNA über einen genetischen Sensor gesteuert werden und demzufolge nur in der Tumor-Zelle ablesbar sein.
Rechtsdepesche: Also etwa, um gezielt auf Krebszellen einzuwirken?
Bohlen: Zum Beispiel. Oder auf virusinfizierte Zellen. Wir haben damit die mRNA von einer relativ dummen Blaupause in eine intelligente Blaupause verwandelt.
Rechtsdepesche: Von vielen werden mRNA-Impfstoffe als Heilsbringer gesehen. Der Virologe Hendrik Streeck hat im Juli in einem Interview mit uns angedeutet, die Wirkung halte länger als gedacht an, womöglich sogar ein Leben lang. Hat er da die falsche Kristallkugel benutzt?
Bohlen: Na ja, Vorhersagen sind schwer zu treffen, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Als Immunologe erschließt es sich mir nicht, warum eine mRNA Impfung im Besonderen für womöglich lebenslangen Schutz sorgen sollte. Wir kennen die Corona-Viren seit langem und sie verändern sich ständig und mutieren.
Ich bin allerdings absolut seiner Meinung, dass mRNA-Impfstoffe den nächsten Schritt machen. Ich habe mich mein halbes Leben mit Vakzinen beschäftigt. Vor 25 Jahren war es noch nicht möglich RNA so aufzureinigen, dass man sie zur Impfung direkt einsetzen kann – wenn auch sicher naheliegend. Dass die mRNA jetzt da ist wo sie ist, ist aber Ergebnis jahrzehntelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit.
Rechtsdepesche: Müssen wir uns daran gewöhnen, jedes Jahr eine Auffrischungsimpfung gegen die aktuelle Corona-Variante zu bekommen?
Bohlen: Ich gehe davon aus, dass es so kommen wird. Die Krankheit wird dann ihren Schrecken verlieren, wenn wir die Gleichzeitigkeit aufbrechen. Im Moment werden viele Menschen gleichzeitig krank und üben damit Druck auf die Gesundheitssysteme aus. Das ist ein Riesenproblem. Auch in der Zukunft wird es bei manchen schwere Verläufe geben. Aber wir kommen hoffentlich in den nächsten zwei Jahren durch Vakzine und natürliche Immunität durch Infektion zu einer deutlichen Reduzierung dieses Gleichzeitigkeitsfaktors. Und dann wird aus der Pandemie eine Endemie.
Rechtsdepesche: Herr Streeck ist Virologe, Sie sind Immunologe. Viele werfen das in einen Topf. Was verbindet, was trennt Sie beide und ihre Berufsgruppen?
Bohlen: Wir nähern uns dem selben Thema aus unterschiedlicher Richtung. In gewisser Weise das Offensivteam und das Defensivteam. Herr Streeck ist Spezialist für Viren, ich für das Immunsystem, das sie abwehrt. Natürlich gibt es dabei Überschneidungen, aber ich würde mich nicht grundsätzlich über Viren auslassen, obwohl ich dazu notwendigerweise ein ordentliches Basiswissen habe.
Rechtsdepesche: Herr Streeck und Herr Drosten wurden in dieser Pandemie oft als Pole der politischen Diskussion dargestellt. Und von entsprechenden Gruppen für sich vereinnahmt. Vorsicht versus Freiheit. Wer hat Recht behalten und wo stehen wir jetzt?
Bohlen: Auf einer typischen Verlaufskurve lagen und liegen die beiden bei ihren Modellen und Vorhersagen gerade mal 5 Prozent vom Durchschnitt entfernt. Also in einem ganz engen Korridor. Die Medien haben das dann zu einem Zweikampf hochstilisiert. Ok, vielleicht hätte Herr Streeck weniger Interviews geben oder in Talkshows die Welt erklären sollen. Für mich war das aber eher ein großes Missverständnis und am Ende sind jetzt ja auch beide im Expertenrat und die liebe Seele hat Ruh
Rechtsdepesche: Sie haben früher als Oberarzt an der Kölner Uniklinik gearbeitet. Sicher haben Sie da immer noch Kontakte. Was hören Sie von Ihren Ex-Kollegen: Wie viel Angst hat man dort vor Omikron?
Bohlen: Angst würd ich nicht sagen. Aber extremen Respekt! Und das könnte sich in den nächsten Wochen noch zu einem großen Problem entwickeln. Denn die Intensivkapazitäten sind vielerorts schon jetzt am Anschlag. Das berichten mir auch meine beiden Söhne, die in Kölner Krankenhäusern arbeiten. Aus einer soften könnte dann im schlimmsten Fall eine harte Triage werden. Und viele Menschen, die auf eine wichtige Operation oder Therapie warten, werden noch länger warten müssen. Auch das wird Opfer fordern.
Rechtsdepesche: Wobei die Intensivbetten, weniger das Problem sind, als das Personal…
Bohlen: Sehr richtig und diese personelle Unterbesetzung haben wir ja schon deutlich vor Corona beklagt. Aber ich kann mir vorstellen: Jetzt in der vierten und fünften Welle kommen viele dort Arbeitende an ihre Belastungsgrenze. Irgendwann läuft das Fass über.
Die aktuell auf die Intensivstationen strömenden Corona-Patienten haben einen sehr hohen Bedarf an Betreuungsmanagement. Aufgrund ihrer Infektiösität und der nötigen, sehr aufwändigen Arbeitsabläufe. Irgendwann kann das System sowas nicht mehr kompensieren.
Rechtsdepesche: Was sagen uns die Erfahrungswerte aus Südafrika und anderswo über die vermutliche Ausbreitung hierzulande? Wie schnell wird diese Welle verlaufen?
Bohlen: Sehr schnell. Genauso schnell wie in anderen Ländern. Wir kennen den R‑Wert und haben gesehen, wie explosionsartig sich Omikron in den USA, Großbritannien und Dänemark ausgebreitet hat. Und in Dänemark hatten wir im Herbst sehr geringe Fallzahlen und kaum Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Dort trifft Omicron auf eine zwischenzeitlich relativ sorglos gewordene Gesellschaft.
Diese extreme Infektiösität macht Omikron so gefährlich, selbst wenn die Virusvariante zu milderen Krankheitsverläufen führen sollte. Was wir nicht mit Gewissheit sagen können. Jetzt ist nicht die Zeit, sich beruhigt zurückzulehnen!
Rechtsdepesche: In Deutschland ist von Sorglosigkeit keine Spur. Wann wird Omikron auch bei uns die dominierende Variante sein?
Bohlen: Wir erleben annähernd eine tägliche Verdoppelung des Omikron-Anteils. Kurz nach Weihnachten wird es auch hierzulande die dominierende Variante sein. Und deshalb fordert der Expertenrat ja, konkrete Vorbereitungen für einen Lockdown zu treffen, um diesen Zeitpunkt wenn möglich zu verzögern.
Rechtsdepesche: Können sich die Menschen effektiv gegen Omikron schützen nach heutigem Wissensstand?
Bohlen: Schnell boostern lassen! FFP2-Masken tragen. Und für vulnerable Gruppen und in Hochinzidenzgebieten gilt: Am besten sogar eine FFP3-Maske.
Rechtsdepesche: Und Ungeimpfte?
Bohlen: Die haben jetzt ein Riesenproblem. Denn die Viruslast in der Bevölkerung wird jetzt sprunghaft ansteigen. Und das trifft dann auf eine Gruppe, die nahezu keine Immunität hat. Ich fürchte da werden sich die allermeisten infizieren.
Für sie gilt: Hocheffiziente Masken tragen und möglichst schnell impfen lassen.
Rechtsdepesche: Der Chefwissenschaftler von Pfizer, Mikael Dolsten, rechnet damit, dass die Pandemie bis 2024 andauern wird. Wenn Sie im neuen Beratergremium der Bundesregierung wären: Welche Stellschrauben würden Sie anziehen, um daraus schnellstmöglich eine Endemie zu machen?
Bohlen: (lacht) Ach, in diesem Gremium sitzen so kluge Leute, die brauchen mich nicht. Die machen hervorragende Arbeit
Wenn man den Modellierern glaubt – und das tue ich zu 100 Prozent – dann wird sich der Gleichzeitigkeitsfaktor im nächsten Jahr deutlich abschwächen. Ob wir dann genau 2024 „Good-bye Corona“ sagen können, das lässt sich nicht genau prognostizieren. Das ist ’ne Menge Kristallkugel und da hat sich Herr Dolsten doch extrem weit aus dem Fenster gelehnt.
Rechtsdepesche: Weihnachten und Silvester stehen vor der Tür. Werden bei Ihnen Verwandtenbesuche und Feuerwerk ausfallen oder ist das ein kalkulierbares Risiko?
Bohlen: Ich werde vorsichtig sein, habe als Arzt aber natürlich ständig Risikokontakte. Ich würde sehr dazu raten, schon zu Weihnachten die Personenzahl zu begrenzen, mit denen man feiert. Enger Familienkreis, maximal 10 Personen und nur Geboosterte sollten zusammen feiern. Und in Silvesterstimmung bin ich eh nicht.
Zur Person: PD Dr. Heribert Bohlen hat sein Studium an der Universität in Brüssel mit summa cum laude abgeschlossen und seitdem diverse Abhandlungen zu immunologischen Themen veröffentlicht. Aktuell ist er Geschäftsführer der aReNA Biotech GmbH und arbeitet als gerichtlicher Gutachter. Heribert Bohlen war Oberarzt und Laborleiter an der Kölner Universitätsklinik sowie unabhängiger Berater der Fraunhofer Gesellschaft. 16 Jahre lang hat er als CEO die Firma Axiogenesis geleitet und mehrere Patente zur Antikörperbehandlung, unter anderem auf RNA-Basis angemeldet.