Im Zuge von Ermittlungsarbeiten der Staatsanwaltschaft Essen wurde während der zweiten Coronawelle im November 2020 ein Haftbefehl gegen einen Oberarzt an der Essener Uniklinik unter anderem unter dem Gesichtspunkt des Totschlags zulasten eines schwer an einer SARS-CoV-2-Infektion erkrankten 47-jährigen niederländischen Staatsbürgers vollstreckt.
Etwa ein halbes Jahr später wurde die Strafverfolgung gegen den gleichen Mediziner auch noch wegen des Todes von zwei weiteren COVID-19-Patienten gegen den Mediziner aufgenommen. Vor dem Landgericht Essen wurden daraufhin zwei Strafverfahren eingeleitet, die ein düsteres Schlaglicht auf den Sterbeort „Krankenhaus“ während der Coronazeit werfen. Zu den Hintergründen beider Verfahren.
Hintergründe
In Deutschland sind insgesamt 183.155 Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19) statistisch erfasst. Nach einer abrechnungsdatenbasierten Analyse verstarben etwa ein Fünftel der COVID-19-Patienten, die in deutschen Krankenhäusern aufgenommen wurden.
Die hohen Sterblichkeitsraten machen deutlich, dass in den Kliniken relativ viele Patienten mit einem sehr schweren Krankheitsverlauf behandelt wurden.
Jedoch sind nicht unbedingt alle Todesfälle in Zusammenhang mit Corona auf das Virus selbst zurückzuführen – in der Uniklinik Essen hat ein Funktionsoberarzt während der zweiten Corona-Welle im Herbst 2020 einigen Patienten, die schwer an einer SARS-CoV-2-Infektion erkrankt waren, lebensbeendende Arzneimittel verabreicht. Diese sollen zu deren vorzeitigem Tod geführt haben.
Der Bundesgerichtshof hat nun in der Revision über die Rügen des Mediziners an den erstinstanzlichen Entscheidungen geurteilt.
Was ist geschehen?
In zwei getrennten Strafverfahren soll der angeklagte Arzt nach den landgerichtlichen Feststellungen bei insgesamt drei Corona-Patienten nach dem Abbruch der Behandlung den Sterbeprozess bewusst beschleunigt und hierdurch ihren sofortigen Tod billigend in Kauf genommen haben.
In dem ersten Strafprozess vor dem Landgericht Essen (Az.: 22 Ks 8/21) wurde dem Arzt zur Last gelegt, den Angehörigen eines Patienten, der an einem nahezu vollständigen Funktionsverlust seiner Lunge litt und für sein Überleben auf eine ECMO-Behandlung als überbrückendes Lungenersatzverfahren angewiesen war, bewusst wahrheitswidrig erklärt haben, dass die Behandlungsmöglichkeiten erschöpft seien.
Das ECMO-Gerät verliere in den nächsten Stunden seine Funktion. Dies führe zu einem Versterben des Patienten, weil ein Gerätewechsel nicht zeitnah genug zu bewerkstelligen sei. In Anwesenheit der Angehörigen schaltete er dann das ECMO-Gerät ab, reduzierte den Beatmungsdruck und verminderte den Sauerstoffgehalt an dem eingesetzten Beatmungsgerät
Dies führte unmittelbar zum Einsetzen des Sterbeprozesses. Etwa eine halbe Stunde später fasste der Angeklagte den Entschluss, den Sterbeprozess zu beschleunigen und das Leben des Patienten durch die Gabe einer hohen Dosis Kaliumchlorid zu beenden. Kurz darauf verstarb der Patient, da sein Herz infolge der Verabreichung stehenblieb.
Nach der Anklage in einem weiteren Verfahren vor dem Landgericht Essen (Az.: 22 Ks 16/21) soll der Arzt die Angehörigen eines 65-jährigen Esseners wahrheitswidrig informiert haben, dass dieser schwerst, aber nicht irreversibel an Corona erkrankt sei. In diesem Fall war die Anklage der Staatsanwaltschaft darauf ausgerichtet, dass der Arzt die Angehörigen nicht über alternative Behandlungen oder eine Fortführung von Therapien informiert habe.
Die herbeigerufenen Angehörigen erklärten sich daraufhin damit einverstanden, dass die Maschinen abgestellt werden. Der Arzt soll dem Patienten dann zwei Beruhigungsmittel und ein starkes Schmerzmittel verabreicht haben, deren Dosierungen für den Mann tödlich waren. In einem zweiten zugleich verhandelten Fall soll der den Angehörigen eines moribunden 50-Jährigen verschwiegen haben, dass er den Sterbeprozess zu beschleunigen beabsichtigt. Nach der Anklage hat er dann zwei Beruhigungsmittel und ein Schmerzmittel mit tödlichen Dosierungen verabreicht. Auch dieses Tatopfer ist verstorben.
Wie urteilte das LG Essen?
Das LG Essen hat den Angeklagten in dem ersten Strafverfahren mit Urteil vom 3. November 2021 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Zentraler Aspekt der Entscheidung war, dass nach den Feststellungen keine medizinische Grundlage für das Handeln des Arztes bestand und er den Tod des Mannes „wahrscheinlich aus Überforderung“ bewusst herbeigeführt hat. Aufgrund der ohnehin kurzen Lebenserwartung des Patienten ist das Urteil wegen Totschlags verhältnismäßig mild ausgefallen.
In dem zweiten Urteil des Landgerichts vom 29. Juni 2022 wurde der Arzt wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hier folgte das Gericht der Argumentation der Verteidigung, nach der das zulässige Abschalten der Geräte zum Tod geführt habe, nicht die Injektion des Kaliumchlorids.
Das Medikament habe den Sterbevorgang abmildern sollen. Ob es aber überhaupt noch eine Wirkung entfalten konnte, sei unklar. Außerdem sei mit der Ehefrau des Patienten zuvor eine palliative Sterbebegleitung besprochen worden. Gegen beide Urteile legte hat der Angeklagte Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.
Die Beschlüsse des BGH
Am 29. Mai 2024 hat der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz über beide Verfahren entschieden. Zunächst ist die tatrichterliche Beweiswürdigung zum Vorwurf eines vorsätzlichen Tötungsdelikts hinsichtlich der Kausalität der Kaliumchloridgabe für den Tod des Geschädigten auf durchgreifende Bedenken gestoßen.
Es mangelte an Feststellungen zur Dauer der Bolusgabe und zum genauen Zeitpunkt des Todeseintritts. Zudem wurden andere mögliche Todesursachen nicht ausreichend berücksichtigt, weshalb das Urteil des Landgerichts Essen vom 3. November 2021 aufgehoben worden ist und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen wurde.
Die gegen das Essener Urteil vom 29. Juni 2022 gerichtete Revision des Angeklagten wurde hingegen verworfen, weil die Nachprüfung dieses Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat. Die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen ist damit rechtskräftig.
FAQ
Was tun, wenn ein Arzt ohne Zustimmung der Angehörigen den Sterbeprozess beschleunigt?
Wenn ein Arzt ohne die Zustimmung der Angehörigen oder Patienten den Sterbeprozess durch Medikamente beschleunigt, kann dies strafrechtliche Konsequenzen wegen eines Tötungsdeliktes (§§ 211 ff. StGB) nach sich ziehen. Im vorliegenden Fall des Essener Oberarztes, der während der COVID-19-Pandemie schwer erkrankten Patienten ohne ausreichende medizinische Grundlage Kaliumchlorid verabreichte, wurde der Arzt wegen versuchten Totschlags rechtskräftig verurteilt. Angehörige können in solchen Fällen rechtliche Schritte einleiten und die Einleitung einer strafrechtlichen Verfolgung sowie die Beanspruchung von Schadenersatz erwägen.
Welche Rechte haben Angehörige bei medizinischen Entscheidungen in lebensbedrohlichen Situationen?
Angehörige haben das Recht, umfassend über den Zustand eines Patienten und mögliche Behandlungsalternativen informiert zu werden. Im Fall des Essener Arztes wurde den Angehörigen fälschlicherweise mitgeteilt, dass es keine weiteren Behandlungsmöglichkeiten gäbe, was zur Zustimmung führte, die Maschinen abzustellen. Ärzte sind verpflichtet, transparent zu handeln und alle Optionen, einschließlich palliativmedizinischer Maßnahmen, darzulegen. Falsche Informationen können zur strafrechtlichen Verfolgung des Arztes und zivilrechtlichen Ansprüchen der Angehörigen führen.
Wer haftet, wenn der Tod eines Patienten durch die Verabreichung von Medikamenten herbeigeführt wird?
Wenn der Tod eines Patienten direkt durch die Verabreichung von Medikamenten herbeigeführt wird, ohne dass eine medizinische Grundlage besteht, ist der handelnde Arzt in der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verantwortung.
Quelle: BGH vom 29. Mai 2024 – 4 StR 138/22 und 4 StR 10/23