Rechtsdepesche: Sehr geehrte Frau Scharfenberg, wir alle sind in diesen Zeiten von der Ausbreitung des COVID-19-Virus stark betroffen. Die Pflegebranche jedoch besonders. Generell betrachtet: Wie hat sich die Krise auf die Pflegekräfte ausgewirkt?
Elisabeth Scharfenberg: Die Coronapandemie macht mehr als deutlich, wo die Schmerzpunkte der Pflege sitzen. Personalmangel und vermehrter Stress üben enormen Druck aus. Mehr denn je sind Pflege- und Betreuungskräfte gefordert. Sie arbeiten über ihre Belastungsgrenzen hinaus und setzen sich bei der Arbeit dem Risiko einer Corona-Infektion aus.
Die Angst um die eigene Gesundheit und die der Familie ist im stressigen Arbeitsalltag hinzugekommen. Homeoffice ist hier einfach unmöglich. Es ist zwar eine schöne Geste, wenn unsere Gesellschaft von ihren Balkonen der Pflegearbeit Applaus spendet. Aber die Anerkennung dieses lebensnotwendigen Berufes muss weit darüber hinaus gelebt werden.
Hier sind die Politik und auch die Pflegeverbände in der Pflicht. Geschieht dies nicht, werden wir am Ende der Pandemie vor einem Scherbenhaufen stehen, denn für viele ist dann nur noch der „Pflexit“, also das Ausscheiden aus dem Pflegeberuf, denkbar.
Rechtsdepesche: Die SARS-CoV-2-Pandemie hat die Vorteile digitaler Gesundheitsangebote deutlich gemacht. Inwieweit hat dieser Trend Einfluss auf die Pflegekräfte (positiv wie negativ)?
Corona sorgte für einen digitalen Schub
Scharfenberg: Im vergangenen Jahr haben wir einen digitalen Schub erlebt, der ohne die Coronapandemie Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte, gebraucht hätte. Videokonferenzen und digitale Kommunikation sind zur Normalität geworden. Auch für die Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeheimen. Durch das Besuchsverbot war dies oft die einzige Möglichkeit, die eigenen Lieben zu sehen. Vieles ist selbstverständlich geworden und die Digitalisierung wurde und wird als hilfreich empfunden. In Zeiten einer immer knapper werdenden Personaldecke kann in meinen Augen die digitale Unterstützung in der Pflege nur positiv sein.
Wichtig ist es hier, die Anwenderinnen und Anwender, also die Pflege selbst, in Entwicklungen mit einzubinden und damit punktgenaue Unterstützungen bereitzustellen und digitale Anwendungen auch akzeptiert werden. Digitale Teilhabe ist hier also das Stichwort, denn genau so findet heute – wenn die Logistik und Voraussetzungen dafür da sind – gesellschaftliche Teilhabe statt.
Rechtsdepesche: Die Pflegenden stehen in der Pandemie unter einem enormen Druck – körperlich und psychisch. Welche Fragestellungen ergeben sich hier für Sie als Vorständin einer Stiftung für Pflege und würdevolles Altern?
Korian-Stiftung unterstützt die Selbstfürsorge
Scharfenberg: Für uns als Korian-Stiftung für Pflege und würdevolles Altern stehen die Pflegekräfte und deren Wohlergehen im Mittelpunkt. Eine qualitativ hochwertige Pflege kann nur von motivierten und gesundheitlich fitten Pflegekräften geleistet werden. Darum haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, genau hier mit unseren praktischen und lebensnahen Projekten anzusetzen.
Derzeit laufen zum Beispiel ein kostenfreier Onlinekurs „Auszeit-ICHZeit“ zum Thema Stressmanagement und Selbstfürsorge. In diesem Kurs, den jede und jeder im eigenen Rhythmus durchlaufen kann, geht es um Stress und Entspannung, Kommunikation, gesundes Atmen – um nur ein paar Punkte zu nennen. Unser Projekt „GaumenPflege – iss Dich glücklich“ befasst sich mit einer gesunden Ernährung für Pflegekräfte im Schichtdienst. Wir wollen Pflege- und Betreuungskräfte, übrigens unabhängig vom Arbeitgeber und Träger, noch dazu kostenfrei – sehr konkret unterstützen.
Rechtsdepesche: Die Ausbildung in der Pflege wird durch Corona auch auf eine harte Probe gestellt. Wie müssten Arbeitgeber ihre praktischen und theoretischen Ausbildungsangebote für die angehenden Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner in dieser schwierigen Zeit aufrechterhalten?
Elisabeth Scharfenberg: „Die meisten Azubis starten mit einer hohen Motivation“
Scharfenberg: Die Auszubildenden sind nicht nur die Zukunft, sondern auch schon die Gegenwart der Pflege. Wer sich für eine Pflegeausbildung entscheidet oder entschieden hat dem müssen – wie in der normalen Wirtschaft auch – immer wieder Anreize geboten werden, im Unternehmen zu bleiben.
Ohne Pflegekräfte überlebt unser Gesundheitssystem nicht. Daher müssen sie auch belohnt werden. Für Pflegekräfte, die sich um das Wohl von Menschen kümmern, müssen also Motivationen und Angebote sowie Arbeitsbedingungen geschaffen werden, dass sie ihren Beruf auch Jahre nach ihrer Ausbildung mit Freude ausüben. Dazu gehört ins Curriculum der Ausbildung eben auch digitale Kompetenzvermittlung.
Außerdem ist es für die Arbeitgeber genauso wie für die Auszubildenden wichtig, in Kontakt zu bleiben. Es gilt, frühzeitig Probleme zu erkennen und diese zu korrigieren. Aus diesem Grund machen wir gerade gemeinsam mit der Hochschule Coburg ein Projekt, bei dem wir Auszubildende bezüglich ihrer Motivation für die Pflegeausbildung und ihre Perspektiven im Beruf befragen. Uns geht es dabei darum zu erfahren, wo die Ursachen liegen, die im schlimmsten Fall zum Ausbildungsabbruch oder zum direkten Verlassen des Pflegeberufes am Ende der Ausbildung führen, und wie diese beseitigt werden können. Die allermeisten Pflege-Azubis starten ihre Ausbildung mit einer hohen Motivation. Diese gilt es zu erhalten.
Elisabeth Scharfenberg: „Pflege ist kein Thema für politisches Gezanke“
Rechtsdepesche: Welche Forderung haben Sie an die Politik, damit die Herausforderungen an die Pflege in der Zukunft bewältigt werden können?
Scharfenberg: Den Statistiken zu Folge wird eine Vielzahl der deutschen Bevölkerung mehr oder minder auf Pflege angewiesen sein. Daher ist der Pflegeberuf für Gesellschaft wie für einzelne Betroffene lebensnotwendig. Wir alle wollen doch, egal in welcher gesundheitlichen Verfassung wir uns befinden, ein Leben in Würde und Freude führen. Und dass der Pflegeberuf diese Relevanz hat, das wissen wir ja nicht erst seit Corona. Die Politik ist gefordert und muss konkret handeln.
Pflege ist kein Thema für politisches Gezanke. Wir brauchen eine echte und konsequente Pflegereform. Wir brauchen eine schonungslose Bestandsaufnahme der Pflegesituation in der gesamten Republik. Dann wäre die Zeit des Beschwichtigens und Schönredens vorbei und wir kämen endlich ins Handeln. Und es muss Geld in die Hand genommen werden. Pflege ist ein hochprofessioneller, verantwortungsvoller Beruf, der seinen verdienten Preis hat.
Zur Person: Elisabeth Scharfenberg, Vorständin der Korian-Stiftung für Pflege und würdevolles Altern. Von 2005 bis 2017 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages und dort Sprecherin für Pflegepolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.