Worum geht es?
Anfang September wurde vor dem VG Osnabrück folgender Fall verhandelt: Einer Pflegehelferin wurde 2022 ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesprochen, weil sie keinen Corona-Impfnachweis vorgelegt hatte.
Ein solcher war aber im Sinne der damals geltenden einrichtungsbezogenen Impfpflicht (§ 20a Infektionsschutzgesetz) für Pflegekräfte und medizinisches Personal verpflichtend. Alternativ hätte sie einen Genesenennachweis oder ein ärztliches Zeugnis darüber vorlegen können, dass sie nicht geimpft werden könne.
Gegen dieses Betretungs- und Tätigkeitsverbot klagte die Frau vor dem VG Osnabrück. Wie sich nun zeigt, stimmt das Gericht ihr tatsächlich zu.
Einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht doch nicht verfassungskonform?
Die Entscheidung des VG Osnabrück steht damit im Konflikt zur Einschätzung des Bundesverfassungsgericht (Az.: 1 BvR 2649/21), das die einrichtungsbezogene Impfpflicht im Jahr 2022 noch für zulässig und mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen hatte.
Die Impfpflicht würde das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und die Berufsfreiheit einschränken. Das stellte zwar auch schon das Bundesverfassungsgericht 2022 fest, damals wurden diese Grundrechtseinschränkungen allerdings damit rechtfertigt, dass die Impfung einen ausreichenden Fremdschutz biete und vulnerable Menschen so vor einer Infektion schützen könne.
Entsprechend wurde angenommen, dass der Nutzen der Impfung den Grundrechtseinschränkungen überwiege. Diese Einschätzung scheint inzwischen zweifelhaft zu sein. Grund dafür sind neue Informationen des Robert Koch-Instituts.
Neue Erkenntnisse des RKIs
Auf Grundlage der mittlerweile veröffentlichten RKI-Protokolle und den Ausführungen des Präsidenten des RKIs, Prof. Dr. Schaade, der vor Gericht als Zeuge auftrat, stellt das VG Osnabrück die „Unabhängigkeit der behördlichen Entscheidungsfindung“ in Frage.
Das Gesetz zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht ist damals mit Empfehlungen des RKIs entstanden. Die Rechtfertigung des Gesetzes wurde – wie bereits angemerkt – immer wieder durch den Schutz vulnerabler Menschen bekräftigt.
Nun habe das RKI allerdings schon 2022 neue Informationen sammeln können, die einen solchen Schutz nicht mehr uneingeschränkt bestätigen konnten – diese Infos wurden aber nicht an den Gesetzgeber weitergegeben. Die auf den Empfehlungen des RKIs beruhenden Einschätzungen zur Impfpflicht sei durch die Veröffentlichung der RKI-Protokolle erschüttert, so das Gericht.
Hierzu ein Auszug aus den RKI-Protokollen vom 26. Oktober 2022: „Aus Altenheim-Ausbrüchen (Exposition für alle gleich) weiß man, dass [die] Wirkung der Impfung eher überschätzt wird. Schwieriges Thema, sollte nicht im Impfbericht formuliert werden.“
Auch in vorherigen RKI-Sitzungen sind immer wieder Unsicherheiten zum Fremdschutz der Impfung geäußert worden. Diesen Ausführungen entnimmt das Gericht, „dass die seitens der Bundesregierung suggerierte und auch vom Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte Annahme, dass die Impfung in jedem Fall einen wirksamen Fremdschutz darstellten, tatsächlich falsch war“.
Impfpflicht „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“
Nach Ansicht des VG Osnabrück hätte das RKI das Bundesministerium für Gesundheit von sich aus über die neuen Erkenntnisse informieren müssen, was allerdings nicht passiert sei.
Weil der Gesetzgeber auch nicht von selbst den aktuellen Stand der Wissenschaft und Forschung angefragt und somit keine Anpassung der Regelung vorgenommen hat, sei er seiner Normbeobachtungspflicht nicht nachgekommen.
Die Kommunikationsdefizite zwischen Exekutive und Legislative dürften nicht zu Lasten der Grundrechtsträgerinnen und ‑träger gehen, erklärt das Gericht.
Der § 20a Infektionsschutzgesetz ist somit im Lauf des Jahres 2022 „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen, da der Zweck der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, vulnerable Personen zu schützen, aufgrund der gleichwertigen Virusübertragung durch geimpfte Personen nicht mehr erreicht werden konnte“.
Die Impfung war also nicht mehr dafür geeignet einen wesentlichen Schutz vor Ansteckung zu bieten, so das Gericht.
Da das Verwaltungsgericht selbst keine Normverwerfungskompetenz hat, legt es seine Entscheidung nun dem Bundesverfassungsgericht vor. Das müsste damit erneut über die einrichtungsbezogene Impfpflicht entscheiden.
FAQ
Ist die einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht verfassungswidrig?
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Osnabrück stellt die Verfassungsmäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (§ 20a Infektionsschutzgesetz) in Frage. Das Gericht argumentiert, dass der Paragraph im Laufe des Jahres 2022 „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“ ist. Die endgültige Entscheidung muss jedoch das Bundesverfassungsgericht treffen.
Welche neuen Erkenntnisse gab es durch die RKI-Protokolle?
Das Verwaltungsgericht Osnabrück stützt seine Entscheidung auf RKI-Protokolle, aus denen hervorgeht, dass der Fremdschutz der Corona-Impfung überschätzt wurde. Diese Informationen waren dem Gesetzgeber 2022 noch nicht zugänglich, obwohl das RKI sie bereits hatte. Das Gericht kritisiert, dass der Gesetzgeber seine Normbeobachtungspflicht nicht wahrgenommen habe, was die Grundlage für die Impfpflicht erschüttert hat.
Wer haftet, wenn die Crorona-Impfpflicht rückwirkend als verfassungswidrig erklärt wird?
Sollte das Bundesverfassungsgericht die einrichtungsbezogene Impfpflicht rückwirkend als verfassungswidrig einstufen, könnten betroffene Pflegekräfte, die wegen fehlender Impfungen Berufsverbote erhielten, Ansprüche geltend machen. Dies könnte zu Haftungsfragen gegenüber dem Staat führen, da diese Grundrechtseinschränkungen möglicherweise unrechtmäßig waren.
Quelle: VG Osnabrück vom 3. September 2024 – 3 A 224/22