Claudia Moll: „Nie mehr so viele Pflegekräfte wie jetzt“
Rechtsdepesche: Auf die überalterten Gesellschaften Europas rollt eine nur schwer einzuschätzende Demographie-Welle der Pflegebedürftigkeit zu und trifft auf ein jetzt schon schwächelndes System. Wie soll es weitergehen?
Claudia Moll: Die Lage ist klar: Wir werden nie wieder so viele Pflegekräfte haben, wohl kaum mehr Geld, aber sicher mehr Menschen mit Pflegebedarf. Deshalb müssen wir die Pflege jetzt zukunftsfest machen.
Kernpunkt ist die Stärkung der häuslichen Pflege. Da brauchen wir mehr Flexibilität, in den Leistungen der Pflegeversicherung, aber auch in der Arbeitswelt.
Das zweite große Feld ist die Weiterentwicklung der Quartierspflege vor Ort. Wir brauchen deutlich mehr Beteiligung und Einfluss der Kommunen. Und drittens müssen wir auch die professionelle Pflege stärken. Gelingen kann dies nur im Zusammenspiel aller Beteiligten.
„Fachkräfte aus dem Ausland liefern wichtigen Beitrag“
Rechtsdepesche: Es handelt sich dabei um ein Problem mit globalen Ausmaßen. Auch die Pflegekontingente in Indien und Brasilien sind endlich. Die müssen sich auch um sich selber kümmern dort. Ist das Konzept der Rekrutierung von Pflegekräften im Ausland überholt?
Moll: Fachkräfte aus dem Ausland leisten hier einen wichtigen Beitrag und das wird auch in Zukunft so sein. Aber wer geglaubt hat, sie allein könnten die Probleme in der Pflege lösen, war schon immer auf dem Holzweg. Wir müssen vor allem unsere Hausaufgaben hier vor Ort machen und das heißt ganz klar, die Prozesse und Strukturen neu gestalten.
Die Probleme von heute und morgen können wir nicht mit der Aufgabenverteilung und den Arbeitsbedingungen von gestern lösen. Ein ganz wichtiger Schritt ist für mich deshalb das sich in Arbeit befindliche Pflegekompetenzgesetz. Pflegekräfte müssen endlich eigenständiger das tun dürfen, was sie in der Ausbildung gelernt haben. Das macht den Beruf attraktiver und verbessert die Versorgung.
Rechtsdepesche: Zur Zeit häufen sich die Stimmen aus der Branche wie Diakonie, Pflegeverbände etc., die sagen: Der Kipppunkt in der Pflege ist bald erreicht. Was sagen Sie denen?
Moll: Ich kann mich hier nur wiederholen: Wir werden nie wieder so viele Pflegekräfte haben wie jetzt. Darauf müssen sich alle einstellen, auch die Einrichtungsbetreiber und Pflegeverbände.
Noch haben wir es in der Hand und können mit neuen und innovativen Versorgungskonzepten darauf reagieren. Die braucht es genauso dringend wie eine effizientere, interprofessionelle Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Wir können es uns nicht mehr erlauben, Kompetenzen nicht adäquat zu nutzen.
„Wir entwickeln ein Pflegekompetenzgesetz“
Rechtsdepesche: Wie oft stimmen Sie sich mit Bundesgesundheitsminister Lauterbach ab, wenn es um die Gestaltung der Pflegepolitik geht? Was berichten Sie dem Minister aus der Szene?
Moll: Wir treffen uns ständig und stimmen und gut ab. Und auch er sieht natürlich die Entwicklung und die Stimmung in der professionellen und in der häuslichen Pflege und wie schon erwähnt: Gerade arbeiten wir sehr eng zusammen an dem Gesetzentwurf zum Pflegekompetenzgesetz.
Rechtsdepesche: Was glauben Sie: Werden die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöht? Inwieweit kann diese Erhöhung dazu beitragen, die Situation zu verbessern?
Moll: Die Frage nach einer Beitragserhöhung ist naheliegend. Viel wichtiger ist aber, die strukturellen Fragen anzugehen, so wie wir es zum Beispiel mit dem gemeinsamen Jahresbetrag für die Kurzzeit- und Verhinderungspflege gemacht haben. Damit haben wir dafür gesorgt, dass die Leistungen der Pflegeversicherung besser zu den Bedürfnissen der Menschen passen.
Effizienzen nutzen, Bürokratie abbauen, Leistungen so gestalten, dass sie passgenau sind und für Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen den größten Effekt haben. Die Bundesregierung wird unter Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit noch vor der Sommerpause Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung vorlegen, so ist es vereinbart. Hierbei wird insbesondere auch die Ausgabenseite der sozialen Pflegeversicherung betrachtet.
„Personalmangel führt schnell zu Unterversorgung“
Rechtsdepesche: Ab wann kann es gefährlich werden für die Patientensicherheit in den Einrichtungen, wenn Personalmangel chronisch ist?
Moll: Mit chronischem Personalmangel lassen sich weder eine gute Versorgung noch gute Arbeitsbedingungen realisieren. Das kann schnell zu einer Unterversorgung oder zu einem neuen Pflegeskandal führen. Menschen mit Pflegebedarf müssen aber immer gut versorgt werden, auch bei personellen Engpässen. Dazu gibt es Personalausfallkonzepte, die der Gesetzgeber gerade auch gestärkt hat.
Die allermeisten Pflegeeinrichtungen leisten tagtäglich sehr gute Arbeit! Wir müssen weiterhin daran arbeiten, dass sich noch mehr Menschen für den Pflegeberuf entscheiden. Wir haben die Ausbildung modernisiert, führen die Personalbemessung mit einem neuen Personalmix schrittweise ein, wir haben dafür gesorgt, dass das Pflegestudium jetzt vergütet wird und außerdem hat sich die Bezahlung in den letzten Jahren durch unsere Verpflichtung zu Bezahlung nach Tarifhöhe enorm verbessert.
Zusammen mit dem Pflegekompetenzgesetz sind das Riesenschritte für die Pflege, die auch den Beruf noch attraktiver machen.
„Pflegekräfte müssen fair entohnt werden – ohne Wenn und Aber“
Rechtsdepesche: Wäre es überhaupt gerechtfertigt, Pflegefachkräften noch bessere Löhne zu zahlen? Ist da eine Grenze nicht bereits erreicht?
Moll: Das klingt für mich wie eine Frage aus einem schlechten Planspiel. Pflegekräfte leisten gute Arbeit. Dafür müssen sie, wie jede andere Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch, angemessen entlohnt werden – ohne Wenn und Aber.
Rechtsdepesche: Welches persönliche Ziel in Ihrer Tätigkeit als Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege wollen Sie Ende 2024 erreicht haben?
Moll: Ich will, dass wir weitere Schritte auf dem Weg hin zu einem modernen Pflegesystem machen.
Mit meiner Broschüre „Pflege jetzt gestalten“ und mit meinen Vorschlägen zur Effizienzsteigerungen in der ambulanten Pflege habe ich wichtige Ziele skizziert.
Flexiblere Leistungen, mehr Verantwortung der Kommunen, Wege für neue Versorgungsformen und natürlich auch Abbau von Bürokratie und unnötigen Hindernissen, um nur ein paar Stichworte zu nennen. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, Strukturen so zu verändern, braucht Zeit. Dazu kommt, wir sind an Koalitionspartner und an die finanziellen Möglichkeiten gebunden.
Unter diesen schwierigen Umständen haben wir trotzdem schon enorm viel für die Pflege bewegt, für die Berufsangehörigen genauso wie für die Menschen mit Pflegebedarf. Und dafür werde ich auch weiter kämpfen.
Rechtsdepesche: Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Claudia Moll (55) ist seit 2022 die Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege. Das SPD-Mitglied ist gelernte Altenpflegerin und bereits seit 2017 Mitglied des Bundestages in Berlin.