Rechtsdepesche: Vor einigen Wochen wurden nach langem Hin und Her die Rahmenempfehlungen zur Versorgung chronischer Wunden veröffentlicht. Sie sind einer der ersten Anbieter, der als spezialisierter Pflegedienst nach diesen Empfehlungen chronische Wunden versorgt. Was sind die bisherigen Erfahrungen?
Jan Basche: Wirklich neu sind die Rahmenempfehlungen ja nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es die entsprechende HKP-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses schon seit September 2020. Dass es mit der Umsetzung der Empfehlungen bis Oktober 2021 gedauert hat, lag daran, dass sie durch den Streit der Vertragspartner erst durch eine Entscheidung der Bundesschiedsstelle in Kraft treten konnte.
Ich habe mit meinen Diensten diese Entwicklung von Beginn an aufmerksam begleitet und erfülle die neuen Anforderungen schon seit Frühjahr 2020. Ich kann mit echter Freude sagen, dass meine Pflegefachkräfte sich den neuen Herausforderungen mit großem fachlichen Engagement stellen und inzwischen auch die üblichen Anfangsschwierigkeiten mit den beteiligten Vertragspartnern überwunden sind.
Chronische Wunden: Fortbildung unbedingt notwendig
Rechtsdepesche: Was ist bei der praktischen Umsetzung zu beachten? Welche Hinweise haben Sie für andere Anbieter? Sind die notwendigen Maßnahmen schon aus der Richtlinie erkennbar?
Basche: Ja, da ist die Richtlinie vergleichsweise konkret. So sind in der Dokumentation, am sinnvollsten also in der Anamnese beziehungsweise im Assessment, die wund- und therapiebedingten Einschränkungen, die Kompetenzen der Patienten und gegebenenfalls ihrer Angehörigen sowie die Auswirkungen auf die Lebensqualität zu erfassen. Im Regelfall ist eine Fotodokumentation zu führen.
Die Fachleitung, also die Fachkraft mit der Zusatzqualifikation über 168 Unterrichtseinheiten (45 Minuten), muss mindestens einmal monatlich im Rahmen einer Evaluation die Versorgungssituation einschätzen. Da müssen Routinen aufgebaut werden. Jede einzelne Pflegefachkraft, die im Pflegedienst chronische Wunden versorgt, muss im Jahr wundspezifische Fortbildungsmaßnahmen im Umfang von mindestens zehn Zeitstunden absolvieren, wobei diese zehn Zeitstunden auf die übrigen Fortbildungsverpflichtungen angerechnet werden können.
Das sind keine trivialen Anforderungen, und diese sollten von den Pflegediensten auch beachtet werden. Es gibt mehrere solcher Punkte, die spätestens vor der nächsten MDK-Prüfung erledigt werden müssen, etwa eine Stellenbeschreibung für die mit der Wundversorgung beauftragten Pflegefachkräfte.
Ärztliche Diagnostik zum alten Preis?
Rechtsdepesche: Das sind teils recht anspruchsvolle Anforderungen: mindestens einmal monatlich evaluieren, Grundkurse und Auffrischungskurse – das kostet alles Zeit und Geld. Wurde irgendwo in Deutschland zwischen Pflegediensten und Krankenkassen schon eine Zusatzvergütung für den Mehraufwand vereinbart?
Basche: Nach meiner Kenntnis wurden allgemeinverbindliche Vergütungsvereinbarungen quer über alle Verbände noch nicht geschlossen, wohl aber Einzelvereinbarungen mit pauschalen Zuschlägen. Für die ganz überwiegende Mehrheit der Pflegedienste erfolgt die Versorgung der chronischen Wunden trotz deutlich erhöhter Anforderungen weiter zum alten Preis.
Das ist natürlich auf Dauer inakzeptabel. Und es ist auch fachlich unangemessen, weil gemäß Punkt 12 der Empfehlungen nicht nur Lokalisation, Exsudat und Geruch etc., sondern auch Gewebearten bestimmt werden sollen. Das ist keine bloße Fortschreibung bisheriger Versorgungsroutinen mehr, sondern klingt schon fast nach ärztlicher Diagnostik. Allerdings gibt es Übergangsregelungen: so können etwa für die Dauer von zwei Jahren auch Pflegefachkräfte mit der Wundversorgung beauftragt werden, die eine einschlägige Qualifikation im Umfang von nur 56 Unterrichtseinheiten nachweisen können.
Verbesserungen auf dem Rücken der Pflegedienste
Rechtsdepesche: Hand aufs Herz: Sind die bisher getroffenen Neuregelungen zur ambulanten Versorgung chronischer Wunden ein Game Changer?
Basche: Ganz klar – leider nein! Erstens lässt sich eine höhere Versorgungssicherheit für die Patienten mittels höherer Anforderungen an die Versorgung nicht über eine höhere Arbeitsbelastung der Pflegefachkräfte ohne entsprechende Vergütung herstellen. Die Verbesserungen finden aber bisher wie so oft auf dem Rücken der Pflegedienste statt. Zweitens führen die Veränderungen strukturell nicht zu mehr Sicherheit. Wenn das Vorhalten einer einzigen qualifizierten Pflegefachkraft schon ausreicht, einen Dienst zum spezialisierten Pflegedienst zu machen, dann ist noch nicht einmal eine obligatorische Vertretungsregelung gewährleistet.
Damit wird diese Anforderung faktisch wertlos. Und drittens dürfen wir nicht vergessen, dass es eine Generalklausel gibt, die sämtliche der bisher genannten Auflagen obsolet macht: die Nummer 17 in § 6 der Rahmenempfehlung. Diese Öffnungsklausel bedeutet nichts weniger als die Erlaubnis zur Fortführung der Versorgung chronischer Wunden auch für nicht-spezialisierte Pflegedienste. Die Fußnote, dass in solchen Fällen von kürzeren Verordnungszeiten und einer engmaschigeren Kontrolle durch den verordneten Arzt auszugehen sei, ist in keiner Weise bindend. Es kann also theoretisch alles so weiterlaufen wie bisher. Das ist angesichts der ursprünglichen Intention ein Armutszeugnis.
Rechtsdepesche: Ich sehe schon – was bisher zu den spezialisierten Pflegediensten vorliegt, hat Sie nicht überzeugt. Was ist mit den spezialisierten Einrichtungen nach § 37 Absatz 7 SGB V? An diese Einrichtungen „an einem geeigneten Ort außerhalb der Häuslichkeit“, wie es im Gesetz heißt, gab es hohe Erwartungen. Damit sollte die Versorgung mit Medizinprodukten endlich in die Hände der Pflege übergeben und nicht zuletzt aus den wirtschaftlichen Erwartungen der Sanitätshäuser gelöst werden.
Jan Basche: Was die spezialisierten Einrichtungen betrifft, liegen die Dinge sogar noch ärger als bei den spezialisierten Pflegediensten. Die Nummer 18 in § 6 der Rahmenempfehlungen ist ein schlechter Witz. Es ist ganz offensichtlich, dass die Verfasser keine Vorstellung davon hatten, wie eine solche Einrichtung aussehen und was für Leistungen dort erbracht werden sollen. Was die Wundzentren betrifft, sind die Rahmenempfehlungen ein Totalausfall, weil die dort genannten Anforderungen für jede Einrichtung gelten.
Bezüglich der wirtschaftlichen Erwartungen haben Sie völlig recht: die bisher tätigen Wundexperten oder Wundberater sind ganz überwiegend nicht bei Ärzten oder Pflegediensten angestellt, sondern bei Sanitätshäusern. Und natürlich gilt dort wie überall: Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing. Angestellte eines Sanitätshauses unterliegen der berechtigten Erwartung ihrer Arbeitgeber, die Produkte des Sanitätshauses zu verkaufen. Das sollte sich eigentlich ändern, aber es hat sich nichts geändert. Wundauflagen tauchen weiterhin nicht im Hilfsmittelverzeichnis nach § 40 Absatz 6 SGB XI auf, bleiben also weiter außerhalb der Entscheidungshoheit der Pflegefachkräfte.
Ich spreche hier ausdrücklich nicht von Entscheidungskompetenz, weil die Pflegefachkräfte diese Kompetenz, also dieses Wissen und Können zur Wundversorgung, längst haben. Auch wenn es durchaus berechtigte Gründe gibt, der Pflege nur das avitale Gewebe zu übergeben, also das Debridement, und vitales Gewebe weiter in den Händen der Ärzte zu belassen, ist es völlig absurd, dass in Deutschland der Pflege die volle Verantwortung für die Wundversorgung noch immer nicht zugetraut wird.
Zukunft der Wundzentren
Rechtsdepesche: Was bedeutet das für die Wundzentren? Haben sie eine Zukunft?
Basche: Ohne die Entscheidungshoheit der Pflegefachkräfte ist es für einen Patienten sinnlos, sich auf den Weg in eine spezialisierte Einrichtung nach § 37 Absatz 7 SGB V zu machen, also in das Wundzentrum eines Pflegedienstes. Die Wirklichkeit ist doch, dass die meisten Patienten mit chronischen Wunden eine stark eingeschränkte Mobilität haben. Warum sollten sie das Haus verlassen, wenn sie im Wundzentrum nicht einmal den Arzt sehen, dessen Verordnung und Rezept sie weiter brauchen? Mit den bisher getroffenen Vorgaben sind Wundzentren ohne direkte Anbindung an eine Praxis oder ein Klinikum gar nicht lebensfähig. Was aber soll dann die Zielgruppe sein, die es weder in die Arztpraxis schafft noch angemessen zu Hause versorgt werden kann? Da fehlt mir im Moment die Phantasie.
Rechtsdepesche: Das klingt alles nicht nach einer bevorstehenden Revolution der Leistungserbringung. Was muss sich ändern in der Versorgung chronischer Wunden?
Basche: Die Ambulante Pflege muss im politischen Handeln den Stellenwert bekommen, der ihr zusteht. Die Gesetze der letzten Legislaturperiode gingen fast ausschließlich zu ihren Lasten. Sie braucht eine eigene Stimme im Gemeinsamen Bundesausschuss. Und die Pflegefachkräfte müssen endlich die Befugnis bekommen, die Versorgung von der Anordnung der Maßnahme bis zur Wundauflage und zur Einsatztaktung in die eigenen Hände zu nehmen. Hier ist noch nichts gewonnen. Der Kampf geht weiter.
Zur Person: Dr. Jan Basche leitet mehrere Pflegedienste in Berlin und ist ein ausgewiesener Experte im Sozialversicherungsrecht.
Mehr zu diesem Themenkomplex erfahren Sie im Schwerpunktaufsatz der Ausgabe März/April 2022 der Rechtsdepesche.