Mit einer Evidenz von 7,2 % bei Patienten über 30 Jahren gehört sie zu den weltweit häufigsten Volkskrankheiten. Bereits jetzt stehen aussagekräftige, internationale Leitlinien und Fachliteratur für Innere Medizin zur Verfügung, die ein standardisiertes Verfahren bei Nierenfunktionseinschränkungen beschreiben. Dass es dennoch Behandlungsdefizite gibt, zeigen in unserer Schadenpraxis vermehrt auftretende Fälle von nicht bzw. zu spät erkannter chronischer Niereninsuffizienz mit schwerwiegenden Folgen für die Patienten.
Die zu Behandlungsbeginn 42-jährige Patientin wurde von 03/2006 bis 09/2012 vom erstbehandelnden Hausarzt betreut. In 24 der insgesamt 27 Quartale fand mindestens ein Arztkontakt statt, wobei Anlass für die Konsultationen überwiegend andere chronische Erkrankungen waren. Bis auf eine unspezifische Schwellneigung an Händen und Füßen im Sommer 2009, die ein mögliches, aber nicht zwingendes Symptom einer Niereninsuffizienz sein kann, wurden keine Beschwerden im Bereich der Nieren oder der ableitenden Harnwege geäußert. Während des gesamten Zeitraums fanden lediglich zwei Blutdruckmessungen statt, wobei in 06/2008 mit 130/80 mmHG ein Normalwert und in 10/2008 mit 145/80 mmHG eine leicht pathologische Druckerhöhung vorlag.
Ungeachtet fehlender Beschwerden wurden insgesamt sieben Blutuntersuchungen veranlasst, bei denen ein stetiger Kreatininanstieg zu verzeichnen war. Der Normwert von <1,10 mg/dl wurde erstmals in 04/2008 mit einem Wert von 1,17 mg/dl überschritten.
Bei der nächsten Messung in 10/2008 lag bei einem Kreatininwert von 1,41 mg/dl bereits eine mittelgradige Nierenschädigung der Stufe 3 vor. Die Erhöhung wurde vom Arzt zwar zur Kenntnis genommen, mit der Patientin aber nicht besprochen.
Der in 06/2011 deutlich erhöhte Wert von 2,1 mg/dl kam erst anlässlich einer zwei Monate später erfolgten Konsultation wegen Ohrenschmerzen zur Sprache, wobei nur eine „baldige Kontrolle“ angemahnt wurde. Diese erfolgte erst ein Jahr später, obwohl zwischenzeitlich zwei weitere Arztkontakte stattfanden. In 06/2012 lag bei einem Kreatininwert von 2,86 mg/dl bereits eine schwere Nierenschädigung der Stufe 4 vor.
In 01/2013 fand ein Behandlerwechsel statt. Die dortige erste Blutentnahme in 04/2013 zeigte einen Kreatininwert von 4,37 mg/dl. Bei der telefonischen Abfrage der Werte wurde der Patientin lediglich durch die Sprechstundenhilfe mitgeteilt, dass sie zur Besprechung der Werte einen Arzttermin vereinbaren solle, was aber nicht erfolgte. Nach einer nicht objektivierbaren Auskunft der Ärztin habe diese in 11/2013 ein „problemorientiertes Gespräch“ mit der Patientin geführt. Eine weitere Laborkontrolle fand aber erst in 02/2014 statt. Der dabei festgestellte Kreatininwert von 4,48 mg/dl wurde mit der Patientin nicht besprochen.
Erstmalig in 01/2015 wurde bei einem weiteren Kreatininanstieg auf 6,01 mg/dl eine mögliche Niereninsuffizienz dokumentiert, die eine erstmalige Blutdruckmessung in dieser Praxis auslöste. Gemessen wurde ein sehr hoher Wert von 190/100.
Nach sofortiger Weiterüberweisung an einen Facharzt diagnostizierte dieser eine chronische Niereninsuffizienz im Stadium 4−5 mit massiver Proteinurie bei Schrumpfnieren beidseits. Nach drei Dialysen wurde in 11/2015 eine Nierentransplantation vorgenommen.
Festgestellte Versäumnisse
- Die Behandlung beider Ärzte wurde durch die Gutachterkommission überprüft. Die dort festgestellten Behandlungsfehler wurden durch einen versicherungsintern beauftragten Gutachter bestätigt:
- Spätestens ab dem Zeitpunkt der nicht mehr rückläufigen Kreatininerhöhung in 10/2008 hätte in angemessenem Zeitrahmen nachkontrolliert werden müssen.
- Vor dem Hintergrund der sich stetig verschlechternden Nierenwerte hätte der Urin auf Protein untersucht werden müssen. Bei der Anfang 2015 festgestellten massiven Proteinurie wären die Werte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch davor auffällig gewesen.
- Es hätten wiederholte Blutdruckmessungen durchgeführt werden müssen. Bei ansonsten gesunden Menschen hätte der in 10/2008 gemessene Wert von 145/80 mmHG zwar nur gelegentliche Kontrollen erfordert. Vor dem Hintergrund der offensichtlichen Nierenschädigung sei eine regelmäßige Blutdruckmessung aber unabdingbar. Es sei davon auszugehen, dass sich der in 01/2015 gemessene Blutdruck von 190/100 mmHG bis dahin stetig erhöht habe.
- Es hätten Ultraschalluntersuchungen der Nieren durchgeführt werden müssen.
- Obwohl beide Ärzte die Erhöhung der Kreatininwerte erkannten, sei die Patientin nicht ausdrücklich und ernsthaft auf das Vorliegen einer gefährlichen, fortschreitenden Nierenerkrankung mit unbedingtem Erfordernis engmaschiger Kontrollen und weitergehender Diagnostik hingewiesen worden. Es habe lediglich wenige unspezifische Hinweise auf das Erfordernis weiterer Kontrollen gegeben. Die Dringlichkeit der Überwachung und die möglichen Konsequenzen bei ausbleibender Behandlung seien der Patientin zu keinem Zeitpunkt nahegebracht worden. Dass die Patientin die angemahnten Kontrollen nur verzögert wahrgenommen habe, könne die Ärzte nicht entlasten. Gerade weil die Patientin beschwerdefrei gewesen sei und bereits deshalb keine eigene Notwendigkeit für eine Behandlung gesehen habe, hätten die Ärzte sie persönlich und nachweisbar auf die Wichtigkeit der Kontrollen und weitergehenden Untersuchungen hinweisen müssen.
Lesen Sie hier in Teil 2, über die Konsequenzen des fehlerhaften Handelns beider Ärzte.
Quelle: Rechtsanwältin Susanne Simon, HDI Versicherung AG, Köln