Cauda-equina-Syndrom
Bei einem Cauda-equina-Syndrom ist unmit­tel­ba­res Handeln erfor­der­lich. Bild: © Sudok1 | Dreamstime.com

Bandschei­ben­vor­fall führt zu Cauda-equina-Syndrom

Schon im Jahr 1998 erlitt eine Frau einen Bandschei­ben­vor­fall und klagte seitdem über wieder­keh­rende Beschwer­den im unteren Rücken­be­reich. Ab August 2015 wurden die Schmer­zen immer schlim­mer, was auch eine Physio­the­ra­pie nicht ändern konnte. Zusätz­lich verspürte sie zuneh­mend eine Taubheit im rechten Bein.

Wegen der Beschwer­den ging sie zunächst zu ihrem Hausarzt, der ihr eine Kranken­haus­ein­wei­sung und eine Überwei­sung zum Radio­lo­gen gab. Der Radio­loge konnte einen massi­ven Bandschei­ben­vor­fall auf Höhe der Lenden­wir­bel­säule feststel­len, bei dem die Nerven­wur­zel stark einge­engt wurde.

Der Radio­loge ermahnte sie dazu unbedingt auf Entlee­rungs­stö­run­gen zu achten, da sie dann umgehend operiert werden müsste. Und tatsäch­lich stellte die Frau im Laufe des Tages fest, dass sie ihre Blase nicht mehr entlee­ren konnte und sich das Taubheits­ge­fühl im Unter­leib ausbrei­tete. Sofort alarmierte sie den Rettungs­dienst, von dem sie in eine Klinik gebracht wurde.

Im Rahmen der Aufnah­me­un­ter­su­chung überreichte sie den Verant­wort­li­chen einen Daten­trä­ger mit den CT-Daten des Radio­lo­gen. In der Klinik konnte zudem eine für einen Bandschei­ben­vor­fall typische Schmerz­sym­pto­ma­tik im unteren Rücken­be­reich und eine einge­schränkte Beweg­lich­keit der Lenden­wir­bel­säule festge­stellt werden.

Die Wirbel­säule selbst stand jedoch gerade, zeigte also keine sicht­bare Fehlhal­tung. Ferner zeigten sich keine senso­mo­to­ri­schen Defizite, ledig­lich leichte Schwä­chen bei der Fußsen­kun­gen. Fersen­stand, Zehen­stand und Einbein­stand konnte die Patien­tin sicher demons­trie­ren.

Notwen­dige Opera­tion zu spät erkannt?

Um abzuklä­ren, ob tatsäch­lich eine Opera­tion notwen­dig ist und um weitere Röntgen- und MRT-Unter­su­chun­gen durch­zu­füh­ren, wurde sie statio­när aufge­nom­men. In der Nacht beklagte die Patien­tin erneut kein Wasser lassen zu können, worauf­hin sie von einer Pflege­fach­kraft unter­sucht wurde. Diese konnte aller­dings keine gefüllte Blase ertas­ten, weshalb sie keine weite­ren Maßnah­men veran­lasste.

Nach erneu­ten Beschwer­den der Patien­tin und nach mehrfa­chem Wunsch wurde ihr schließ­lich ein Blasen­ka­the­ter gelegt, durch den eine große Menge Urin entleert werden konnte.

Am nächs­ten Tag klagte die Patien­tin über Taubheits­ge­fühle im Genital­be­reich und im Unter­bauch. Nach Rückspra­che mit dem dienst­ha­ben­den Oberarzt wurde ein Spannungs­test des Schließ­mus­kels (Prüfung des Sphin­ker­to­nus) durch­ge­führt. Die Prüfung ergab einen leicht vermin­der­ten Sphin­ker­to­nus, worauf­hin ein begin­nen­des Cauda-equina-Syndrom vermu­tet wurde, was eine umgehende Notfall-Opera­tion notwen­dig machte. Die Opera­tion fand dann am späten Nachmit­tag statt.

Erklä­rung: Cauda-equina-Syndrom

Das Cauda-Equina-Syndrom ist eine ernst­hafte neuro­lo­gi­sche Notfall­si­tua­tion, die durch eine starke Kompres­sion der Nerven­fa­sern im unteren Rücken­mark (der „Pferde­schweif“, latei­nisch Cauda Equina) entsteht. Typische Symptome sind starke Schmer­zen, Lähmun­gen in den Beinen, Taubheits­ge­fühl im Genital- und Analbe­reich („Reitho­sen­an­äs­the­sie“) sowie Probleme mit Blasen- und Darment­lee­rung. Die Ursache ist oft ein massi­ver Bandschei­ben­vor­fall, aber auch Tumore oder Verlet­zun­gen können dazu führen. Ohne sofor­tige Opera­tion besteht das Risiko von dauer­haf­ten Nerven­schä­den und Inkon­ti­nenz.

Am Folge­tag der Opera­tion wurde in der Behand­lungs­do­ku­men­ta­tion vermerkt, dass das Gefühl im Genital­be­reich allmäh­lich zurück­kehre. Der Kathe­ter konnte aller­dings wegen anhal­ten­der Inkon­ti­nenz noch nicht entfernt werden.

Zwei Tage nach der OP wurde erneut ein MRT durch­ge­führt, was einen neuen Bandschei­ben­vor­fall (Rezidiv-Vorfall) zeigte. Umgehend wurde eine weitere Opera­tion durch­ge­führt, die schließ­lich Linde­rung verschaf­fen sollte.

Fünf Tage nach dieser letzten OP zeigt das MRT die vollstän­dige Entfer­nung des Bandschei­ben­vor­falls. Dennoch blieb die Patien­tin vorerst weiter inkon­ti­nent, weshalb der Dauer­ka­the­ter noch nicht entfernt werden konnte. Sie wurde zur Rehabi­li­ta­ti­ons­be­hand­lung in eine neue Klinik verlegt.

Kläge­rin: „Aufnah­me­un­ter­su­chung war unzurei­chend!“

Mit ihrer Verle­gung war die Angele­gen­heit für die Patien­tin aber nicht vorbei. Sie erhob Klage vor dem LG Biele­feld gegen die Klinik, in der die Opera­tio­nen durch­ge­führt wurden. Vor Gericht behaup­tete sie, dass die Aufnah­me­un­ter­su­chung in der Klinik unzurei­chend gewesen sein soll. Bei ihrer Einwei­sung teilte sie dem behan­deln­den Arzt mit, dass sie seit circa 10 Stunden kein Wasser mehr lassen könne und zudem Taubheits­ge­fühle im Scham­be­reich sowie im rechten Bein habe. Trotz­dem sei nur eine grobe Einwei­sungs­un­ter­su­chung durch­ge­führt worden – ohne neuro­lo­gi­sche Abklä­rung.

Wichtige Aspekte wie die Schmerz­aus­strah­lung ins Bein und die Sensi­bi­li­tät im Genital­be­reich seien überhaupt nicht unter­sucht worden. Auch sei eine Ultra­schall-Unter­su­chung zur Bestim­mung der Restharn­menge medizi­nisch indiziert gewesen. Allein schon aufgrund der vorlie­gen­den CT-Daten des Radio­lo­gen hätten sofort weitere fachärzt­li­che Befund­er­he­bun­gen erfol­gen müssen. Fehler sieht die Patien­tin auch beim Pflege­per­so­nal. Das habe trotz mehre­rer Hinweise, dass sie kein Wasser mehr lassen könne, keine weite­ren fachärzt­li­chen Unter­su­chun­gen veran­lasst.

So hätte schon am Aufnah­me­tag der Verdacht auf ein Cauder-equina-Syndrom aufkom­men können, was eine recht­zei­tige Opera­tion und die Vermei­dung von irrever­si­blen neuro­lo­gi­schen Folge­schä­den ermög­licht hätte.

Seit der Behand­lung leide sie unter dauer­haf­ten Beein­träch­ti­gun­gen wie Sensi­bi­li­täts­stö­run­gen im Genital­be­reich und in den Beinen, Blasen- und Darment­lee­rungs­stö­run­gen, Einschrän­kun­gen der Sexua­li­tät, Kraft­min­de­rung in Beinen und Unter­bauch, Becken­bo­den­schwä­che und einer Gangstö­rung.

Patien­tin fordert Schmer­zens­geld

Von der Klinik fordert sie deshalb ein Schmer­zens­geld in Höhe von 75.000 Euro sowie die Zahlung von 4.757,64 Euro wegen Fahrt­kos­ten und weite­ren 5.876,51 Euro wegen Zuzah­lun­gen zu Behand­lun­gen, Heil- und Hilfs­mit­teln. Darüber hinaus seien ihr Einkom­mens­ein­bu­ßen von 57.203,21 Euro und Haushalts­füh­rungs­schä­den von 16.850,80 Euro entstan­den, die ebenfalls zu beglei­chen wären.

Während das LG Biele­feld die Klage in erster Instanz abgewie­sen hatte, zeigte die Berufung der Patien­tin vor dem OLG Hamm mehr Erfolg. Das Gericht kam zur Überzeu­gung, dass tatsäch­lich ein grober Behand­lungs­feh­ler (§ 630h) ursäch­lich für die erlit­te­nen Beein­träch­ti­gun­gen der Patien­tin war.

OLG Hamm – 26 U 183/23

„Nach der ständi­gen Recht­spre­chung des Bundes­ge­richts­hofs ist ein Behand­lungs­feh­ler dann als grob zu bewer­ten, wenn der Arzt eindeu­tig gegen bewährte ärztli­che Behand­lungs­re­geln oder gesicherte medizi­ni­sche Erkennt­nisse versto­ßen und einen Fehler began­gen hat, der aus objek­ti­ver Sicht nicht mehr verständ­lich erscheint, weil er einem Arzt schlech­ter­dings nicht unter­lau­fen darf.“

„Unter einem Cauda-equina-Syndrom darf die Sonne nicht unter­ge­hen“

So konnte ein Sachver­stän­di­ger vortra­gen, dass in vorlie­gen­den wissen­schaft­li­chen Arbei­ten Einig­keit darüber bestehe, dass bei einem vorlie­gen­den Cauda-equina-Syndrom inner­halb von 48 Stunden nach Eintritt der Symptome eine Opera­tion erfol­gen muss, weil sonst die Behand­lungs­er­geb­nisse signi­fi­kant schlech­ter ausfal­len würden.

Der Sachver­stän­dige konnte überzeu­gend darle­gen, dass in allen Klini­ken nach dem Grund­satz gehan­delt werde, dass unter einem Cauda-equina-Syndrom die Sonne nicht unter­ge­hen dürfe. In der Praxis warte man nicht ab, sondern rate sofort zur Opera­tion – je schnel­ler, desto besser. Nach Ansicht des Gerichts hätte eine frühere Opera­tion eine ernst­hafte Chance geboten, dass die Kläge­rin beschwer­de­frei geblie­ben wäre.

Leitsatz

Bei der Annahme eines Cauda-equina-Syndroms ist der Patient umgehend zu operie­ren. Wird nicht umgehend operiert, kann das als grober Behand­lungs­feh­ler gewer­tet werden.

Der Senat hält ein Schmer­zens­geld von 75.000 Euro gemäß § 253 Absatz 2 BGB für gerecht­fer­tigt. Die Bemes­sung basiert auf der Schwere der Verlet­zun­gen, der Dauer des Leidens, der Beein­träch­ti­gun­gen und dem Grad des Verschul­dens.

Die Kläge­rin leidet unter Blasen- und Darment­lee­rungs­stö­run­gen sowie Sensi­bi­li­täts­stö­run­gen im Genital­be­reich, die ihre Sexua­li­tät beein­träch­ti­gen. Aufgrund ihres Alters von 47 Jahren erscheint die Höhe des Schmer­zens­gel­des angemes­sen.

Die Klinik muss auch für materi­elle und zukünf­tige immate­ri­elle Schäden wegen der verzö­ger­ten Opera­tion haften.

Gegen die Entschei­dung ist eine Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­den vor dem BGH einge­legt worden (Az.: VI ZR 324/24).

FAQ

Was tun, wenn ein Cauda-equina-Syndrom vermu­tet wird?

Ein Cauda-equina-Syndrom ist ein medizi­ni­scher Notfall und erfor­dert eine sofor­tige Abklä­rung durch einen Facharzt. Symptome wie Taubheits­ge­fühle im Genital­be­reich, Lähmun­gen oder Probleme mit der Blasen- und Darment­lee­rung müssen ernst genom­men und schnellst­mög­lich behan­delt werden. Eine umgehende Opera­tion inner­halb von 48 Stunden kann das Risiko bleiben­der Nerven­schä­den erheb­lich reduzie­ren.

Welche Symptome deuten auf ein Cauda-equina-Syndrom hin?

Typische Symptome des Cauda-equina-Syndroms sind starke Rücken­schmer­zen, Taubheits­ge­fühle in den Beinen oder im Genital­be­reich sowie Lähmungs­er­schei­nun­gen. Beson­ders alarmie­rend sind Blasen- oder Darment­lee­rungs­stö­run­gen, da sie auf eine schwere Nerven­kom­pres­sion hindeu­ten. Ohne recht­zei­tige Behand­lung kann es zu irrever­si­blen neuro­lo­gi­schen Schäden und dauer­haf­ter Inkon­ti­nenz kommen.

Wer haftet, wenn ein Cauda-equina-Syndrom nicht recht­zei­tig behan­delt wird?

Wenn eine Klinik oder ein Arzt trotz eindeu­ti­ger Symptome eine notwen­dige Notfall-Opera­tion verzö­gert, kann dies als grober Behand­lungs­feh­ler gewer­tet werden. In einem Urteil des OLG Hamm wurde einer Patien­tin Schmer­zens­geld zugespro­chen, weil eine zu späte Opera­tion zu dauer­haf­ten Beschwer­den führte. Betrof­fene können in solchen Fällen Schadens­er­satz und Schmer­zens­geld gemäß § 630h BGB geltend machen.

Quelle: OLG Hamm vom 13. Septem­ber 2024 – 26 U 183/23