Bürokratische Hürden stehen einer besseren Pflege im Weg. Darin schienen sich alle 15 Verbände und Sachverständige einig, die zur 100. Sitzung des Gesundheitsausschusses am 9. September 2020 eingeladen waren. Insbesondere für häuslich Pflegende brauche es eine Flexibilisierung, beispielsweise durch eine Erleichterung der Vereinbarkeit mit dem Beruf. Ebenfalls zur Diskussion standen: Eine Task Force zur Versorgung mit Schutzausrüstung, eine bundesweite Pflegekammer sowie wissenschaftlich basierte Bemessungsinstrumente für das Pflegepersonal, „die sich am tatsächlichen Pflegebedarf der Menschen orientieren“.
Anlass für die Anhörung waren zwei Anträge der Bundestagsfraktion der Grünen, die Verbesserungen in der häuslichen Pflege, für Behinderte sowie für professionell Pflegende vorsehen. „Gute Pflege braucht eine angemessene Personalausstattung, gute tarifliche Löhne, attraktive Arbeitsbedingungen und eine starke Einbindung in die gesundheitspolitische Entscheidungsfindung“, heißt es in einem der Anträge (Drucksache 19/19136). Kurzfristig sollen Pflegekräfte eine bessere Ausstattung mit Schutzausrüstung erhalten, die Bonuszahlung müsse komplett aus Steuermitteln finanziert werden und für akute Coronaausbrüche brauche man klarere Leitlinien.
Eine bessere Schulung und psychologische Betreuung sei ebenso notwendig, wie eine dauerhafte Rücknahme der coronabedingten Änderungen zum Arbeitsschutz. Diese hatten vorübergehend eine Ausweitung der Arbeitszeit auf bis zu zwölf Stunden und die Verkürzung der Ruhezeiten auf bis zu neun Stunden ermöglicht. Wenn jetzt gerade diejenigen, die sowieso schon am Anschlag arbeiten würden, noch längere Schichten und keine angemessenen Ruhephasen mehr hätten, dann sei das „absolut kontraproduktiv“. Die Gewerkschaft ver.di wies in diesem Zusammenhang auf chinesische Studien hin: Hiernach korrelieren überlange Schichten in Kliniken mit hohen Infektionsraten des Pflegepersonals.
Zu wenig professionell Pflegende
In der Sitzung ging es auch um den ungedeckten Personalbedarf in der Pflege. Prof. Dr. Heinz Rothgang (Universität Bremen) lobte zwar die im Versorgungsverbesserungsgesetz vorgesehenen 20.000 Assistenzkräfte. Dies sei jedoch nur ein erster Schritt, tatsächlich seien 100.000 zusätzliche Stellen in der Pflege notwendig. Hier brauche es ein „kraftvolleres Signal“ und einen klaren Zeitplan. Zugleich warb er für die im vorliegenden Antrag geforderten und von ihm mitentwickelten Instrumente zur Personalbemessung in der Altenpflege.
Schon bei der Ausbildung gerate jedoch die Suche nach zusätzlichen Fachkräften ins Stocken, betonte die FDP-Abgeordnete Nicole Westig, denn es gebe zu wenig Lehrende in den jeweiligen Ausbildungsgängen. Auch in Punkto Digitalisierung würden zahlreiche Chancen nicht genutzt. Die Mittel aus dem Digitalpakt kämen je nach Bundesland gar nicht in der Pflegeausbildung an. Eine Einschätzung, der von Sachverständigenseite nicht widersprochen wurde.
Weitgehende Einigkeit herrschte in der Frage, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Dazu gehöre auch Vertrauen in die Kompetenz und Fähigkeiten der Pflegefachkräfte. Die während Corona eingeführte Erlaubnis zur Ausführung heilkundlicher Tätigkeiten habe sich bewährt. Hier müsse man eine neue Abgrenzung der Verantwortungsbereiche diskutieren, so Gernot Kiefer vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen. Er sehe in der Ausübung ärztlicher Tätigkeiten durch Pflegepersonal „kein unzumutbares Risiko“.
Solange es einen inländischen Personalmangel in der Pflege gebe, müsse man auch für eine weitere Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland offen sein, fordern die Grünen in ihrem Antrag. Obwohl es dadurch auch zu Unterkapazitäten in den Herkunftsländern kommen kann. Differenziert beurteilt dies Josef Hug vom Städti. Klinikum Karlsruhe, der seine Erfahrungen aus der Praxis schilderte. In seiner Einrichtung arbeiten Mitarbeiter aus 80 Nationen – aber nicht immer reibungslos. Die Sprachkenntnisse nach B2 reichten oft nicht aus und darüber hinaus gebe es oftmals große kulturelle Unterschiede, insbesondere bei Fragen von Nähe und Distanz. Die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen sei immer noch zu bürokratisch und die Anerkennungsverfahren mit drei bis sechs Monaten zu lang.
Pflegende ab in die Kammer?
Die im Antrag enthaltene Forderung nach einer Bundespflegekammer erwischte nicht das beste Timing: Zwei Tage vor dem Anhörungstermin wurden Ergebnisse einer Umfrage bekannt, nach der sich die niedersächsischen Pflegenden für eine Auflösung der Pflegekammer ausgesprochen hatten. Davon ließ sich deren Stellvertretende Kammerpräsidentin Nora Wehrstedt jedoch nicht beirren. Sie hält eine pflegerische Selbstverwaltung weiterhin für notwendig, um politisch Einfluss nehmen zu können. Pflegekammern sähen sich zudem „als Anwälte der Pflegebedürftigen“. Von der Politik wünscht sie sich mehr Rückendeckung und klare Ansprechpartner. Wolle man die Fehler von Niedersachsen vermeiden, dann müsse auf Bundesebene eine gewisse Anschubfinanzierung erfolgen. Andernfalls müssten sonst sofort Mitgliedsbeiträge erhoben werden, was die Akzeptanz einer solchen Kammer mindern würde.
Der auch von mehreren Sachverständigen unterstützte Wunsch nach einer angemesseneren Entlohnung für Pflegekräfte, ist durch den zwischenzeitlichen Tarifabschluss in der Altenpflege zumindest im Ansatz in Erfüllung gegangen. Allerdings fordern die Grünen mit ihrem Antrag den Bundesarbeitsminister auf, den Tarifvertrag „schnellstmöglich für allgemeinverbindlich zu erklären“. Denn nur dann würde er auch für die Altenpflegeeinrichtungen gelten, die unter privater Führung stehen (40 Prozent der Fälle). Ver.di-Vertreterin Grit Genster ging in der Anhörung davon aus, dass dies spätestens Anfang 2021 zu erwarten sei.
Pflegende daheim brauchen Unterstützung
Insgesamt positiv kamen bei den eingeladenen Sachverständigen die Vorschläge zur Stärkung pflegender Angehöriger und Verbesserung der Vereinbarkeit von häuslicher Pflege und Beruf an. Insbesondere die Einbeziehung von Freunden und Nachbarn stieß auf große Zustimmung. In der Praxis werde dies längst umgesetzt, berichtete Dr. Elisabeth Fix (BAGFW). Dies habe sich bewährt und sollte nun verstetigt werden.
Auch darüber hinaus sei Flexibilisierung das Gebot der Stunde. In der Corona-Hochphase mussten viele häuslich Pflegenden den Zusammenbruch ihrer Versorgungsinfrastruktur erleben. Da sei viel Improvisation nötig gewesen. Analog zur Regelung für Eltern, müsse für solche epidemiologische Krisen auch eine Lohnfortzahlung von mindestens 6 Wochen gewährleistet sein, um den Wegfall von Betreuungsmöglichkeiten auffangen zu können.
In der Kurzzeitpflege ist es besonders brenzlig
Nicht erst seit Corona zugespitzt habe sich die Situation in der Kurzzeitpflege, beklagte Christian Pälmke (wir pflegen e.V.). Seit 2011 gingen die Kapazitäten hier zurück, während gleichzeitig 800.000 zusätzliche häuslich Pflegende hinzugekommen seien. Die Leistung stehe nur auf dem Papier, in der Praxis gebe es Wartelisten von bis zu einem Jahr. Für Pälmke ein „absolutes No-go“.
Die im Antrag gestellte Forderung, das Pflegezeitgesetz und das Familienpflegezeitgesetz zu einem Gesetz für mehr Zeitsouveränität für Pflegepersonen weiterzuentwickeln, stieß auch bei Dr. Tine Haubner von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena auf Sympathie. In diesem Kontext sei es richtig, eine steuerfinanzierte dreimonatige „PflegeZeit Plus“ je pflegebedürftigem Menschen – analog zum Elterngeld – einzuführen. Zugleich warnte Haubner vor der Gefahr einer Prekarisierung – Pflege dürfe kein Armutsrisiko sein.
Auf die Einbeziehung häuslich Pflegender in die sie betreffende Entscheidungsprozesse ging Brigitte Bührlen (WIR! Stiftung pflegender Angehöriger) ein. Diese seien eine „gewichtige Stimme“ und müssten etwa bei der Sozialraumplanung stets angehört werden. In eine ähnliche Kerbe schlug auch Prof. Dr. Heinz Rothgang. Dessen kürzlich abgeschlossene Online-Befragung in 18.000 Gesundheitseinrichtungen habe bei pflegenden Angehörigen ein Bedürfnis nach Anerkennung aufgezeigt. „Sie fühlen sich nicht gesehen in der Corona-Krise“, so Rothgang, „aber das zu ändern kostet nicht viel“. Kümmertelefone, passgenaue Unterstützungsmöglichkeiten und Flexibilisierung statt Bürokratie, fasste er die Wünsche der Befragten zusammen.
Die strukturellen Vorschläge im Antrag (Drucksache 19/18957) für ein zentrales digitales Register zur Auffindbarkeit und Erreichbarkeit von Notbetreuungsangeboten sowie für eine bundesweite Notfall-Hotline stießen hingegen auf ein geteiltes Echo. Sinnvoll? Ja! Schnell umsetzbar? Eher nein, meinte ein Teil der Experten.
Die komplette Anhörung vom 9.9.2020 ist hier auch als Video verfügbar.