Das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (MELH).
Das Marie-Elisa­beth-Lüders-Haus (MELH), Berlin-Mitte: Hier tagte der Gesund­heits­aus­schuss zu seiner 100. Sitzung. Bild: falco/Pixabay.com

Bürokra­ti­sche Hürden stehen einer besse­ren Pflege im Weg. Darin schie­nen sich alle 15 Verbände und Sachver­stän­dige einig, die zur 100. Sitzung des Gesund­heits­aus­schus­ses am 9. Septem­ber 2020 einge­la­den waren. Insbe­son­dere für häuslich Pflegende brauche es eine Flexi­bi­li­sie­rung, beispiels­weise durch eine Erleich­te­rung der Verein­bar­keit mit dem Beruf. Ebenfalls zur Diskus­sion standen: Eine Task Force zur Versor­gung mit Schutz­aus­rüs­tung, eine bundes­weite Pflege­kam­mer sowie wissen­schaft­lich basierte Bemes­sungs­in­stru­mente für das Pflege­per­so­nal, „die sich am tatsäch­li­chen Pflege­be­darf der Menschen orien­tie­ren“.

Anlass für die Anhörung waren zwei Anträge der Bundes­tags­frak­tion der Grünen, die Verbes­se­run­gen in der häusli­chen Pflege, für Behin­derte sowie für profes­sio­nell Pflegende vorse­hen. „Gute Pflege braucht eine angemes­sene Perso­nal­aus­stat­tung, gute tarif­li­che Löhne, attrak­tive Arbeits­be­din­gun­gen und eine starke Einbin­dung in die gesund­heits­po­li­ti­sche Entschei­dungs­fin­dung“, heißt es in einem der Anträge (Druck­sa­che 19/19136). Kurzfris­tig sollen Pflege­kräfte eine bessere Ausstat­tung mit Schutz­aus­rüs­tung erhal­ten, die Bonus­zah­lung müsse komplett aus Steuer­mit­teln finan­ziert werden und für akute Corona­aus­brü­che brauche man klarere Leitli­nien.

Eine bessere Schulung und psycho­lo­gi­sche Betreu­ung sei ebenso notwen­dig, wie eine dauer­hafte Rücknahme der coronabe­ding­ten Änderun­gen zum Arbeits­schutz. Diese hatten vorüber­ge­hend eine Auswei­tung der Arbeits­zeit auf bis zu zwölf Stunden und die Verkür­zung der Ruhezei­ten auf bis zu neun Stunden ermög­licht. Wenn jetzt gerade dieje­ni­gen, die sowieso schon am Anschlag arbei­ten würden, noch längere Schich­ten und keine angemes­se­nen Ruhepha­sen mehr hätten, dann sei das „absolut kontra­pro­duk­tiv“. Die Gewerk­schaft ver.di wies in diesem Zusam­men­hang auf chine­si­sche Studien hin: Hiernach korre­lie­ren überlange Schich­ten in Klini­ken mit hohen Infek­ti­ons­ra­ten des Pflege­per­so­nals.

Zu wenig profes­sio­nell Pflegende

In der Sitzung ging es auch um den ungedeck­ten Perso­nal­be­darf in der Pflege. Prof. Dr. Heinz Rothgang (Univer­si­tät Bremen) lobte zwar die im Versor­gungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz vorge­se­he­nen 20.000 Assis­tenz­kräfte. Dies sei jedoch nur ein erster Schritt, tatsäch­lich seien 100.000 zusätz­li­che Stellen in der Pflege notwen­dig. Hier brauche es ein „kraft­vol­le­res Signal“ und einen klaren Zeitplan. Zugleich warb er für die im vorlie­gen­den Antrag gefor­der­ten und von ihm mitent­wi­ckel­ten Instru­mente zur Perso­nal­be­mes­sung in der Alten­pflege.

Schon bei der Ausbil­dung gerate jedoch die Suche nach zusätz­li­chen Fachkräf­ten ins Stocken, betonte die FDP-Abgeord­nete Nicole Westig, denn es gebe zu wenig Lehrende in den jewei­li­gen Ausbil­dungs­gän­gen. Auch in Punkto Digita­li­sie­rung würden zahlrei­che Chancen nicht genutzt. Die Mittel aus dem Digital­pakt kämen je nach Bundes­land gar nicht in der Pflege­aus­bil­dung an. Eine Einschät­zung, der von Sachver­stän­di­gen­seite nicht wider­spro­chen wurde.

Weitge­hende Einig­keit herrschte in der Frage, den Pflege­be­ruf attrak­ti­ver zu machen. Dazu gehöre auch Vertrauen in die Kompe­tenz und Fähig­kei­ten der Pflege­fach­kräfte. Die während Corona einge­führte Erlaub­nis zur Ausfüh­rung heilkund­li­cher Tätig­kei­ten habe sich bewährt. Hier müsse man eine neue Abgren­zung der Verant­wor­tungs­be­rei­che disku­tie­ren, so Gernot Kiefer vom Spitzen­ver­band der Gesetz­li­chen Kranken­ver­si­che­run­gen. Er sehe in der Ausübung ärztli­cher Tätig­kei­ten durch Pflege­per­so­nal „kein unzumut­ba­res Risiko“.

Solange es einen inlän­di­schen Perso­nal­man­gel in der Pflege gebe, müsse man auch für eine weitere Anwer­bung von Arbeits­kräf­ten aus dem Ausland offen sein, fordern die Grünen in ihrem Antrag. Obwohl es dadurch auch zu Unter­ka­pa­zi­tä­ten in den Herkunfts­län­dern kommen kann. Diffe­ren­ziert beurteilt dies Josef Hug vom Städti. Klini­kum Karls­ruhe, der seine Erfah­run­gen aus der Praxis schil­derte. In seiner Einrich­tung arbei­ten Mitar­bei­ter aus 80 Natio­nen – aber nicht immer reibungs­los. Die Sprach­kennt­nisse nach B2 reich­ten oft nicht aus und darüber hinaus gebe es oftmals große kultu­relle Unter­schiede, insbe­son­dere bei Fragen von Nähe und Distanz. Die Vergabe von Aufent­halts­ge­neh­mi­gun­gen sei immer noch zu bürokra­tisch und die Anerken­nungs­ver­fah­ren mit drei bis sechs Monaten zu lang.

Pflegende ab in die Kammer?

Die im Antrag enthal­tene Forde­rung nach einer Bundes­pfle­ge­kam­mer erwischte nicht das beste Timing: Zwei Tage vor dem Anhörungs­ter­min wurden Ergeb­nisse einer Umfrage bekannt, nach der sich die nieder­säch­si­schen Pflegen­den für eine Auflö­sung der Pflege­kam­mer ausge­spro­chen hatten. Davon ließ sich deren Stell­ver­tre­tende Kammer­prä­si­den­tin Nora Wehrstedt jedoch nicht beirren. Sie hält eine pflege­ri­sche Selbst­ver­wal­tung weiter­hin für notwen­dig, um politisch Einfluss nehmen zu können. Pflege­kam­mern sähen sich zudem „als Anwälte der Pflege­be­dürf­ti­gen“. Von der Politik wünscht sie sich mehr Rücken­de­ckung und klare Ansprech­part­ner. Wolle man die Fehler von Nieder­sach­sen vermei­den, dann müsse auf Bundes­ebene eine gewisse Anschub­fi­nan­zie­rung erfol­gen. Andern­falls müssten sonst sofort Mitglieds­bei­träge erhoben werden, was die Akzep­tanz einer solchen Kammer mindern würde.

Der auch von mehre­ren Sachver­stän­di­gen unter­stützte Wunsch nach einer angemes­se­ne­ren Entloh­nung für Pflege­kräfte, ist durch den zwischen­zeit­li­chen Tarif­ab­schluss in der Alten­pflege zumin­dest im Ansatz in Erfül­lung gegan­gen. Aller­dings fordern die Grünen mit ihrem Antrag den Bundes­ar­beits­mi­nis­ter auf, den Tarif­ver­trag „schnellst­mög­lich für allge­mein­ver­bind­lich zu erklä­ren“. Denn nur dann würde er auch für die Alten­pfle­ge­ein­rich­tun­gen gelten, die unter priva­ter Führung stehen (40 Prozent der Fälle). Ver.di-Vertreterin Grit Genster ging in der Anhörung davon aus, dass dies spätes­tens Anfang 2021 zu erwar­ten sei.

Häusliche Pflege: Mitgefühl und mit Gefühl
Häusli­che Pflege: Mitge­fühl und mit Gefühl Bild: Pezibear/Pixabay.de

Pflegende daheim brauchen Unter­stüt­zung

Insge­samt positiv kamen bei den einge­la­de­nen Sachver­stän­di­gen die Vorschläge zur Stärkung pflegen­der Angehö­ri­ger und Verbes­se­rung der Verein­bar­keit von häusli­cher Pflege und Beruf an. Insbe­son­dere die Einbe­zie­hung von Freun­den und Nachbarn stieß auf große Zustim­mung. In der Praxis werde dies längst umgesetzt, berich­tete Dr. Elisa­beth Fix (BAGFW). Dies habe sich bewährt und sollte nun verste­tigt werden.

Auch darüber hinaus sei Flexi­bi­li­sie­rung das Gebot der Stunde. In der Corona-Hochphase mussten viele häuslich Pflegen­den den Zusam­men­bruch ihrer Versor­gungs­in­fra­struk­tur erleben. Da sei viel Impro­vi­sa­tion nötig gewesen. Analog zur Regelung für Eltern, müsse für solche epide­mio­lo­gi­sche Krisen auch eine Lohnfort­zah­lung von mindes­tens 6 Wochen gewähr­leis­tet sein, um den Wegfall von Betreu­ungs­mög­lich­kei­ten auffan­gen zu können.

In der Kurzzeit­pflege ist es beson­ders brenz­lig

Nicht erst seit Corona zugespitzt habe sich die Situa­tion in der Kurzzeit­pflege, beklagte Chris­tian Pälmke (wir pflegen e.V.). Seit 2011 gingen die Kapazi­tä­ten hier zurück, während gleich­zei­tig 800.000 zusätz­li­che häuslich Pflegende hinzu­ge­kom­men seien. Die Leistung stehe nur auf dem Papier, in der Praxis gebe es Warte­lis­ten von bis zu einem Jahr. Für Pälmke ein „absolu­tes No-go“.

Die im Antrag gestellte Forde­rung, das Pflege­zeit­ge­setz und das Famili­en­pfle­ge­zeit­ge­setz zu einem Gesetz für mehr Zeitsou­ve­rä­ni­tät für Pflege­per­so­nen weiter­zu­ent­wi­ckeln, stieß auch bei Dr. Tine Haubner von der Fried­rich-Schil­ler-Univer­si­tät in Jena auf Sympa­thie. In diesem Kontext sei es richtig, eine steuer­fi­nan­zierte dreimo­na­tige „Pflege­Zeit Plus“ je pflege­be­dürf­ti­gem Menschen – analog zum Eltern­geld – einzu­füh­ren. Zugleich warnte Haubner vor der Gefahr einer Preka­ri­sie­rung – Pflege dürfe kein Armuts­ri­siko sein.

Auf die Einbe­zie­hung häuslich Pflegen­der in die sie betref­fende Entschei­dungs­pro­zesse ging Brigitte Bührlen (WIR! Stiftung pflegen­der Angehö­ri­ger) ein. Diese seien eine „gewich­tige Stimme“ und müssten etwa bei der Sozial­raum­pla­nung stets angehört werden. In eine ähnli­che Kerbe schlug auch Prof. Dr. Heinz Rothgang. Dessen kürzlich abgeschlos­sene Online-Befra­gung in 18.000 Gesund­heits­ein­rich­tun­gen habe bei pflegen­den Angehö­ri­gen ein Bedürf­nis nach Anerken­nung aufge­zeigt. „Sie fühlen sich nicht gesehen in der Corona-Krise“, so Rothgang, „aber das zu ändern kostet nicht viel“. Kümmer­te­le­fone, passge­naue Unter­stüt­zungs­mög­lich­kei­ten und Flexi­bi­li­sie­rung statt Bürokra­tie, fasste er die Wünsche der Befrag­ten zusam­men.

Die struk­tu­rel­len Vorschläge im Antrag (Druck­sa­che 19/18957) für ein zentra­les digita­les Regis­ter zur Auffind­bar­keit und Erreich­bar­keit von Notbe­treu­ungs­an­ge­bo­ten sowie für eine bundes­weite Notfall-Hotline stießen hinge­gen auf ein geteil­tes Echo. Sinnvoll? Ja! Schnell umsetz­bar? Eher nein, meinte ein Teil der Exper­ten.

Die komplette Anhörung vom 9.9.2020 ist hier auch als Video verfüg­bar.