Bürgerversicherung
Alle in einen Topf, alle aus einem Topf: Die Bürger­ver­si­che­rung soll für mehr Gerech­tig­keit sorgen und die Finan­zie­rung der gesetz­li­chen Kranken- und Pflege­ver­si­che­rung stärken. Bild: Desireé Gorges

Kommt die Bürger­ver­si­che­rung? Mitte Januar sorgte Bundes­wirt­schafts­mi­nis­ter Robert Habeck für Aufruhr, als er anläss­lich der stark gestie­ge­nen Beiträge zur gesetz­li­chen Kranken­ver­si­che­rung vorschlug, zur Finan­zie­rung des Gesund­heits­sys­tems künftig auch Einkünfte aus Kapital­erträ­gen heran­zu­zie­hen.

Wirtschafts­wis­sen­schaft­ler und Politi­ker kriti­sier­ten den Vorschlag. Sie bezeich­ne­ten ihn mitun­ter als unaus­ge­go­ren und bezwei­fel­ten einen nennens­wer­ten Effekt, da große Kapital­ver­mö­gen vor allem von Vielver­die­nern erzielt würden, die oberhalb der Beitrags­be­mes­sungs­grenze liegen oder nicht sozial­ver­si­che­rungs­pflich­tig beschäf­tigt sind. Bei Einkom­men unter­halb der Beitrags­be­mes­sungs­grenze seien dagegen keine großen Kapital­ver­mö­gen üblich und dieje­ni­gen, die langfris­tig Kapital für die private Alters­vor­sorge aufbauen wollten, würden nach Habecks Vorschlag mit zusätz­li­chen Sozial­ab­ga­ben belas­tet. Der befürch­tete Angriff auf den kleinen Sparer wurde auch aus Reihen der FDP und Union heftig kriti­siert.

Reiche sollen stärker belas­tet werden

Der grüne Wirtschafts­mi­nis­ter und seine Partei stell­ten im Rahmen der entfach­ten Debatte zwar klar, dass sich für Klein­spa­rer nichts ändern sollte und es beson­ders Reiche treffen sollte, die „Geld für sich arbei­ten lassen“. Detail­fra­gen zur konkre­ten Ausge­stal­tung der Finan­zie­rung, zum Beispiel hinsicht­lich der Freibe­träge oder einer Anhebung der Beitrags­be­mes­sungs­grenze, blieben aber offen.

Mehr Aufschluss in dieser Hinsicht bot da gute zwei Wochen später ein Gutach­ten des Gesund­heits­öko­no­men Heinz Rothgang, welches das Bündnis für eine solida­ri­sche Pflege­voll­ver­si­che­rung in Auftrag gegeben hatte. Die Berech­nun­gen des Bremer Univer­si­täts­pro­fes­sors zeigen, dass die Mehraus­ga­ben, die sich durch die Auswei­tung von Pflege­leis­tun­gen bis hin zu einer vollstän­di­gen Abdeckung der Pflege­kos­ten ergeben würden, mit einer Bürger­ver­si­che­rung nahezu ausge­gli­chen werden könnten. Eine Finan­zie­rung der Pflege­ver­si­che­rung im Rahmen einer Bürger­ver­si­che­rung, „in die alle einzah­len und in der alle Einkom­mens­ar­ten berück­sich­tigt werden“ ist demnach möglich, „ohne den Beitrags­satz wesent­lich erhöhen zu müssen“.

Das Bündnis, zu dem zum Beispiel der Paritä­ti­sche Gesamt­ver­band, der Deutsche Berufs­ver­band für Pflege­be­rufe (DBfK) oder der Deutsche Gewerk­schafts­bund (DGB) gehören, schlägt mit dem Gutach­ten weitge­hend in die gleiche Kerbe, in der auch Habecks Vorstoß steckt.

Bürger­ver­si­che­rung für alle von allen

Die Einfüh­rung einer einheit­li­chen Bürger­ver­si­che­rung ist schon seit vielen Jahren in den Program­men von Grünen, SPD und Linke veran­kert. Das Modell geht mit der Abschaf­fung der priva­ten Kranken­ver­si­che­rung einher und würde über kurz oder lang die Sozial­ver­si­che­rungs­pflicht für die gesetz­li­che Kranken- und Pflege­ver­si­che­rung auswei­ten. So würden auch bisher Privat­ver­si­cherte wie Beamte, Selbst­stän­dige und Abgeord­nete künftig an der Finan­zie­rung des öffent­li­chen Gesund­heits­sys­tems betei­ligt werden.

Dass auch bei einer Bürger­ver­si­che­rung die kriti­sier­ten Sozial­ab­ga­ben auf Einkünfte aus Kapital­erträ­gen heran­ge­zo­gen würden, zeigt ein Blick in das Gutach­ten von Gesund­heits­öko­nom Rothgang. In einer Tabelle, aus der die zugrunde geleg­ten Einkom­mens­ar­ten und Perso­nen­kreise der Berech­nung hervor­ge­hen, sind neben den abhän­gig sozial­ver­si­che­rungs­pflich­tig Beschäf­tig­ten auch Selbst­stän­dige und Beamte, Rentner und Pensio­näre, Studie­rende, Arbeits­lose, Kinder, Mitver­si­cherte und Studie­rende aufge­führt. Mit Ausnahme der Kinder und Bürger­geld-Empfän­ger, werden bei einer Bürger(voll)versicherung alle Einkünfte der übrigen Perso­nen­kreise heran­ge­zo­gen. Diese umfas­sen neben Einkünf­ten aus Haupt- und Neben­tä­tig­kei­ten zum Beispiel Renten, BAföG-Leistun­gen und eben auch Einkünfte aus Kapital­ver­mö­gen.

Pflege­fall ist kein Sozial­fall

Für den bereits sozial­ver­si­che­rungs­pflich­tig beschäf­tig­ten Beitrags­zah­ler ergäbe sich dagegen bei „einem Einkom­men bis zur derzei­ti­gen Beitrags­be­mes­sungs­grenze monat­li­che Mehrkos­ten von weniger als 5 Euro“, heißt es in der Mittei­lung zum Gutach­ten. Dem gegen­über stünde die vollstän­dige Übernahme von Pflege­kos­ten im Pflege­fall. Als Beispiel wird der Aufent­halt in einem Pflege­heim genannt, für den Betrof­fene im ersten Jahr derzeit durch­schnitt­lich 2.970 Euro monat­lich selbst aufbrin­gen müssten. Mehr als ein Drittel der Pflege­be­dürf­ti­gen in Heimen sei auf Sozial­hilfe angewie­sen, da sich eine solche Last mit den durch­schnitt­li­chen Alters­ein­künf­ten nicht schul­tern ließe.

Um die Explo­sion der Pflege­kos­ten für Betrof­fene zu stoppen, gehöre die solida­ri­sche Pflege­ver­si­che­rung ganz oben auf die To-do-Liste einer neuen Bundes­re­gie­rung, forderte Joachim Rock vom Paritä­ti­schen Gesamt­ver­band. „In unserem Sozial­staat sollten die Menschen darauf vertrauen können, dass eine solida­ri­sche Versi­che­rung, die das Wort ‚Pflege‘ im Namen trägt, das reine Pflege­ri­siko auch voll abdeckt“, bekräf­tigte auch Bündnis­part­ner Manfred Stegger vom BIVA-Pflege­schutz­bund. Sozial­hilfe sei kein würdi­ger Ersatz für Ansprü­che aus eigenen Beitrags­zah­lun­gen.

Faire Löhne für Pflege­per­so­nal wichtig

„Um quali­fi­zierte Pflege­kräfte zu gewin­nen und zu halten, braucht es gute Arbeits­be­din­gun­gen und faire Löhne“, betonte darüber hinaus Gewerk­schafts­ver­tre­te­rin Sylvia Bühler. Das habe seinen Preis. Damit sich alle eine gute Pflege leisten können, müsse die nächste Bundes­re­gie­rung die Pflege­ver­si­che­rung gerecht aufstel­len.

Da auch die Kosten für Pflege­kräfte zuletzt gestie­gen sind, schla­gen sich diese auch auf der Seite der seit Jahren steigen­den Gesund­heits­kos­ten nieder. Gleiches gilt für Medika­mente, Klini­ken und zahlrei­che andere finan­zi­elle Stell­schrau­ben, die im und am Gesund­heits­sys­tem drehen. Ob eine Bürger­ver­si­che­rung den Teufels­kreis zwischen Solida­ri­tät und Wirtschaft­lich­keit im teuers­ten Gesund­heits­sys­tem der EU durch­bre­chen könnte, bleibt fraglich – zumal die Idee natur­ge­mäß nicht auf allsei­ti­gen Zuspruch stößt.

Bürger­ver­si­che­rung dämpft Wettbe­werb und Innova­tion

„Je deutli­cher sich die Finan­zie­rungs­pro­bleme der umlage­fi­nan­zier­ten Sozial­ver­si­che­rungs­sys­teme zeigen, desto öfter werden Forde­run­gen nach einem Einheits­sys­tem laut“, leitet etwa der Verband der Priva­ten Kranken­ver­si­che­rung (PKV) seine Position zur Bürger­ver­si­che­rung ein. Ein solches System würde den Wettbe­werb ausschal­ten und die Innova­ti­ons­kraft dämpfen, was gravie­rende Nachteile für das Gesund­heits­sys­tem und die gesamte Gesell­schaft hätte. Es könnten beispiels­weise Beiträge weiter erhöht und Leistun­gen reduziert werden und Arbeit­ge­ber durch höhere Lohnzu­satz­kos­ten infolge einer höheren Beitrags­be­mes­sungs­grenze belas­tet werden.

Auch sei es ein Irrglaube, dass sich mit der Einbe­zie­hung der Privat­ver­si­cher­ten in die umlage­fi­nan­zier­ten Systeme die Finanz­not der sozia­len Pflege­ver­si­che­rung und der gesetz­li­chen Kranken­ver­si­che­rung auch nur ansatz­weise bewäl­ti­gen ließen, behaup­tet der Verband. 10 Prozent der Versi­cher­ten könnten nicht das Grund­pro­blem von 90 Prozent lösen, heißt es weiter.

Fazit

Die gesetz­li­che Kranken­ver­si­che­rung und soziale Pflege­ver­si­che­rung stoßen an finan­zi­elle Grenzen. Eine einheit­li­che Bürger­ver­si­che­rung, an der auch Privat­ver­si­cherte betei­ligt und neben dem Arbeits­ein­kom­men zum Beispiel auch Einkünfte aus Kapital­erträ­gen sowie eine höhere Beitrags­be­mes­sungs­grenze heran­ge­zo­gen werden sollen, wird seit langem disku­tiert. Ein Gutach­ten zur Pflege­voll­ver­si­che­rung zeigt nun, dass eine solche Finan­zie­rung die vollstän­dige Abdeckung von Pflege­kos­ten im Pflege­fall möglich machen könnte.

FAQ

Was ist die Bürger­ver­si­che­rung?

Die Bürger­ver­si­che­rung bezeich­net ein einheit­li­ches System der gesetz­li­chen Kranken- und Pflege­ver­si­che­rung, das mit der Abschaf­fung der priva­ten Kranken­ver­si­che­rung einher­geht.

Was bewirkt die Bürger­ver­si­che­rung?

Höhere Einnah­men, mehr Effizi­enz und Gerech­tig­keit: Eine Bürger­ver­si­che­rung bedeu­tet, dass alle Bürger Beiträge zur gesetz­li­chen Kranken­ver­si­che­rung leisten und gleiche Leistun­gen in Anspruch nehmen können. Bei einer Bürger­ver­si­che­rung soll nicht nur das Arbeits­ein­kom­men, sondern auch andere Einkünfte, zum Beispiel aus Kapital­ver­mö­gen, heran­ge­zo­gen werden.

Was spricht gegen die Bürger­ver­si­che­rung?

Der finan­zi­elle Effekt der Bürger­ver­si­che­rung ist umstrit­ten und eng verwo­ben mit der Beitrags­be­mes­sungs­grenze, die Beiträge deckelt und somit hohe Einkom­men und große Vermö­gen nur bis zu dieser Grenze berück­sich­tigt. Auch der ausge­schal­tete Wettbe­werb zwischen gesetz­li­cher und priva­ter Kranken­ver­si­che­rung und der damit verbun­dene Verlust von Innova­ti­ons­kraft wird bemän­gelt.