Ein Augenarzt behandelte nach einem Schlaganfall einfach weiter – Patienten trugen Schäden davon: Dr. Stephan L. betrieb als approbierter Augenarzt von 2011 bis 2015 eine Augenarztpraxis in Kempten. In seiner Praxis unterzogen sich Patienten zum Teil auch Kataraktoperationen, etwa bei Grauem Star.
Dr. L. klärte seine Patienten im Vorfeld über mögliche Risiken der Augenoperation auf, verschwieg dabei jedoch, dass er im Jahr 2009 einen Schlaganfall erlitten hat, der zur Beeinträchtigung seiner motorischen Fähigkeiten in der rechten Hand führte.
Ganze neun Patienten sollen im Anschluss an ihre Operationen bei Dr. L. beträchtliche Schäden an ihren Augen davongetragen haben, zwei von ihnen erblindeten sogar auf einem Auge.
Fahrlässig, vorsätzlich oder gar unschuldig?
Die Berufungskammer des LG Kempten ging zunächst davon aus, dass der angeklagte Dr. L. aufgrund seiner motorischen Beeinträchtigung nicht mehr in der Lage gewesen ist, Augenoperationen durchzuführen.
Dieser Verdacht bestätigte sich jedoch nicht. In seiner Beweiswürdigung konnte das Berufungsgericht am Ende keinen Zusammenhang zwischen den durch den Schlaganfall hervorgerufenen motorischen Schäden und den Behandlungsfehlern feststellen.
Das Landgericht Kempten veruteilte den Arzt dennoch zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe. Die Begründung: Die Patienten seien im Vorfeld der Operation nicht über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Dr. L. aufgeklärt worden.
Ihre Einwilligung in die Behandlung sei deswegen nicht wirksam und Dr. L. aus diesem Grund nicht dazu befugt gewesen, die Operationen zu vollziehen.
Die Berufungskammer ging zugunsten von Dr. L. davon aus, dass er die Notwendigkeit einer Aufklärung verkannt und daher „nur“ fahrlässig gehandelt hat. Zunächst ging man von einem vorsätzlichen Handeln aus. Dr. L. wurde daraufhin wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Vorerkrankungen hin oder her.
Die Revision
In der Revision durch die Verteidigung gab diese an, Dr. L. sei zur Aufklärung über seinen Schlaganfall nicht verpflichtet gewesen. Die Approbationsbehörde hatte 2012 bei einer amtsärztlichen Untersuchung keine gesundheitlichen Einschränkungen feststellen können. Ihr Plädoyer: Unschuldig.
Die Staatsanwaltschaft forderte ebenfalls die Aufhebung des Urteils und Rückverweisung des Verfahrens – jedoch aus einem anderen Grund. Das Landgericht Kempten habe das Urteil auf Grundlage einer lückenhaften Beweiswürdigung ausgesprochen. Herausgekommen ist eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung.
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft würden jedoch eine Reihe von Gründen dafürsprechen, dass Dr. L. mehrere vorsätzliche Körperverletzungshandlungen unter Klarheit über seine Beeinträchtigungen begangen habe.
Urteil ausstehend
Dieser Ansicht folgte auch der 5. Strafsenat des Bayerischen Oberlandesgericht. Der Senat vermisste ebenfalls eine wirksame Einwilligung der Patienten in die Operationen und führt an:
„Eine rechtswirksame Einwilligung setzt nach den Ausführungen des Senats eine Aufklärung voraus, die dem Patienten Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestaltung in den Grundzügen erkennen lassen und ihn in die Lage versetzen, das für und Wider des Eingriffs abschätzen zu können. Ein Arzt hat danach seine Patienten über alle Umstände aufzuklären, die aus der Sicht eines verständigen, nicht übertrieben ängstlichen Patienten wesentlich sind, um die Risiken einer Operation abschätzen zu können. Der Senat kam deswegen zu dem Schluss, dass der Angeklagte Einschränkungen seiner motorischen Fähigkeiten gegenüber seinen Patienten nicht verschweigen durfte.“
Die Erteilung einer Approbation entbinde den Arzt nicht von der Pflicht, zu prüfen, ob er über die erforderliche Eignung für die Behandlungsmaßnahme verfügt. Insbesondere, wenn die Maßnahmen mit erheblichen Risiken, wie im Falle des Augenarztes Dr L. mit seinen Vorerkrankungen, verbunden sind.
Der Senat verwarf die Revision des Angeklagten. Das Urteil des Kemptener Landgerichts wurde nach der Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben. Der Senat hat die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Müssen Ärzte über ihre Vorerkrankungen informieren?
Das letzte Wort ist in diesem Urteil noch nicht gesprochen. Sind Ärzte grundsätzlich dazu verpflichtet, auf ihre Vorerkrankungen hinzuweisen, wenn diese den Patienten akut gefärden/nicht gefährden könnten? Eine rechtliche Einschätzung liefert dazu Rechtsdepesche-Chefredakteur und Jurist Michael Schanz:
„Der Fall ruft bei mir Erinnerungen an das Strafverfahren im Jahr 2003 gegen einen Aachener Chirurgen hervor, der trotz seiner chronischen Hepatitis-B-Infektion am Herzen operierte und nachweislich zwölf Patienten infizierte. Wenn auch der damalige Sachverhalt vom Bundesgerichtshof auf einer anderen Tatbestandsebene abgearbeitet wurde, ist die Grundannahme die Gleiche: Das Wohl der Patienten muss das Leitmotiv für jeden Arzt sein – auch wenn es darum geht, den Umfang der Aufklärung zu bestimmen.
Über Umstände die zur Erhöhung des Behandlungsrisikos führen können, muss der Patient informiert werden. Sei es, dass diese aus der grundsätzlichen Gefährlichkeit einer Operation folgen oder in der körperlichen Schwäche des Patienten, bzw. Arztes begründet sind. Dies entspricht althergebrachter Rechtsprechung und wurde im Jahr 2012 in die Paragraphenkette des sogenannten Patientenrechtegesetzes integriert. Ähnlich wie die als „Selbstbezichtigung“ bezeichnete Informationspflicht gemäß § 630c Absatz 2 Satz 2 BGB über Behandlungsfehler wird man sich in dem Kemptener Fall mit guten Gründen der Argumentation der Staatsanwaltschaft anschließen können und dem Arzt die Erklärung auch über eigene körperliche Defizite abverlangen können, sofern diese die Behandlung gefährden.
Nach meiner persönlichen Einschätzung hätte der Augenarzt die Behandlungen von vornherein unterlassen sollen. Aus der zivilrechtlichen Perspektive kommt hinzu, dass die Übernahme von Behandlungen trotz erkennbarer körperlicher Beeinträchtigungen durchaus auch dem Haftungsbereich der groben Behandlungsfehler zugeordnet werden kann.“