Appell: Vor dem Willy-Brandt-Haus in Berlin-Mitte hat der Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) eine Kundgebung veranstaltet. Die Demonstranten wollten zum Auftakt der Koalitionsverhandlungen in der SPD-Parteizentrale auf dringende Missstände in der Pflege aufmerksam machen. „Wir haben gehört, dass die Verhandlungen beginnen und sind ganz spontan zusammengekommen, um unsere Forderungen zu betonen,“ sagte DBfK-Präsidentin Prof. Christel Bienstein der Rechtsdepesche.
„Wir brauchen die Einführung der neuen Pflegepersonalverordnung PPR 2.0, wir brauchen eine hochschulische Qualifikation der Pflege und damit auch die Finanzierung der Hochschulen. Aber vor allen Dingen brauchen wir dringend mehr Menschen, die in die Pflege kommen, und das werden wir nur mit besseren Arbeitsbedingungen erreichen. Das heißt, wir brauchen eine komplette Strukturreform des Gesundheitssystems.“
Die prekäre Situation der Pflegenden sollte insbesondere der Berliner Politik durch die gerade erst beendeten Streiks in den Charité- und Vivantes-Kliniken bewusst sein (Rechtsdepesche berichtete). Prof. Bienstein sieht das Ergebnis als wichtigen Schritt: „Die Kollegen sind froh, dass sich etwas bewegt hat. Es ist sicherlich nicht das erreicht worden, was man erreichen wollte, aber sie haben deutlich gezeigt, dass sie bereit sind, sich für ihre Rechte einzusetzen und das ist für Pflegende noch immer nicht die Regel.“
Appell: Mehr Personal und faire Gehälter
Die Forderungen des DBfK sind umfassend, aber nicht neu. Zentral für eine Besserung der Arbeitsbedingungen ist eine wissenschaftlich gestützte Personalbemessung in Form der PPR 2.0. Auch eine stärkere Akademisierung der Pflege ist sinnvoll: Aktuell dürfen immer noch viele Tätigkeiten nur von Ärztinnen und Ärzten ausgeführt werden, was den Praxisalltag oft unnötig kompliziert. Abgesehen davon ist es eine Frage des Respekts, die Expertise der Pflegenden auch in Form von offiziellen Befugnissen anzuerkennen.
Grundvorraussetzung hierfür ist ein professionelles Aus- und Weiterbildungssystem, denn gerade der Pflegeberuf erfordert lebenslanges Lernen. Eine wichtige Rolle spielt auch das Thema politische Mitbestimmung. Denn bis jetzt haben die Pflegenden keine Stimme im Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA), der die Richtlinien für die Inhalte der gesundheitlichen Versorgung bestimmt und darüber entscheidet, welche Leistungen von den Krankenkassen erstattet werden.
In einer Ansprache vor der SPD-Zentrale wendete sich Prof. Bienstein direkt an die Politik: „Sie haben die Verantwortung. Nehmen Sie diese wahr und helfen Sie Pflegenden, bessere Bedingungen für unsere Bürgerinnen und Bürger schaffen zu können. Sie sind verantwortlich. Wir werden Sie daran messen, was Sie entscheiden.“
Frustration bei Berufseinsteigerinnen: Geht der Pflege der Nachwuchs aus?
Auch einige Berufseinsteigerinnen kamen zu Wort und berichteten von großer Frustration: „28 Prozent der Auszubildenden haben im vergangenen Jahr ihre Ausbildung abgebrochen. 17 Prozent unserer Kolleg*innen überlegen, nach der Pandemie den Beruf zu verlassen.“ Viele gehen abends nach Hause mit dem Gefühl, den Patienten und Patientinnen nicht gerecht geworden zu sein.
In einem direkten Appell an die Koalitionspartner wird eine Rednerin sehr deutlich: „Wir brauchen keine weiteren leeren Versprechungen für die nächsten vier Jahre. Ihr erkennt selbst, dass wir unser Gesundheitssystem auf kommende Krisen vorbereiten müssen. Aber ihr versteht nicht, dass das niemals funktionieren kann, solange wir Profite vor Menschen priorisieren. […] Wir brauchen jetzt konkrete Entlastungen für die Pflegekräfte, die uns alle durch die Pandemie getragen haben. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, auch noch die verbleibenden Pflegefachpersonen zu verlieren.“ Sie schließt mit einem bitteren Fazit: „Wenn wir gehen, dann ist dieses kaputtgesparte, dysfunktionale, menschenunwürdige System am Ende.“
Es bleibt zu hoffen, dass diese Appelle gehört werden. Denn seit Jahren wird eine grundlegende Reformation der Pflege angekündigt. Schon 2019 wurde die Konzertierte Aktion Pflege ins Leben gerufen, die bis jetzt die Missstände im Gesundheitswesen nicht beseitigen konnte. Im Gegenteil: Die verschärfte Belastung der Pflegenden in der Pandemie hat nochmals deutlich gemacht, wie hoch der Leidensdruck ist. Jetzt liegt es an der neuen Bundesregierung, die seit Jahren bekannten Probleme effektiv anzugehen. Bis zum 10. November sollen die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sein.