Andrea Würtz schilderte mit chronologischer Präzision die Geschichte hinter den Ereignissen des Altenheim-Pflegeskandals. Ihrem Vortrag war eine unglaubliche Aneinanderreihung von Vergehen und Verbrechen zu entnehmen, deren strafrechtliche Verfolgung nach nunmehr 3 Jahren noch immer in den Akten der Staatsanwaltschaft München II ruht.
Insgesamt werden mindestens 88 Fälle von schwerer Körperverletzung zur Last gelegt, von denen 17 Vorwürfe als Tötungsdelikte zur Verfolgung anstehen. Das mit dieser Fülle an Straftaten eine Vielzahl an Sorgfaltsverstößen in der Pflegequalität einhergehen ist eigentlich eine traurige Selbstverständlichkeit.
Keine Selbstverständlichkeit ist jedoch, dass die zur Aufsicht und Kontrolle verpflichteten Stellen über eine lange Zeit hinweg keinen Handlungsbedarf erkannten. Die Einschränkung durch die pandemiebedingten Sonderregelungen vermag vor dem Hintergrund der lebensgefährdenden Zustände und massiven Qualitätsmängel nach Würtz´ Einschätzung keine Entschuldigung zu bieten.
Altenpflege: Katastrophale Zustände
Kopfschüttelnd erfuhren die fachkundigen Zuhörerinnen und Zuhörer von illegalen Beschäftigungsverhältnissen, Mäuseplagen, Schimmelpilzbefällen, Dehydrationen, Mangelernährungen und einer Vergewaltigung mit Todesfolge; allesamt Vorfälle, denen die behördlichen Begehungsprotokolle an keiner Stelle gerecht geworden sind.
Bemerkenswerter Weise sei die Schließung des Heimes erst auf Druck der Medien nach der Kündigung des Versorgungsvertrages erfolgt. Dies sei eine unübliche Reihenfolge und ein Beleg für die Notwendigkeit von Zivilcourage. Nur wenn derartige Verstöße offengelegt werden würden, kann den Missständen in Pflegeinrichtungen Einhalt geboten werden.
Das Hinweisgeberschutzgesetz sei in dieser Hinsicht ein Meilenstein und berge die Hoffnung, dass der Druck auf alle Verantwortlichen in der Pflegebranche zur Einhaltung der Pflegequalität in Zukunft steige.
Mit dem Blick auf das Leid der Betroffenen wurde Andrea Würtz sehr deutlich: „Der Faktor „Zeit“ bzw. das Unterlassen der hier zweifelsfrei dringend benötigten adäquaten und anhaltenden Soforthilfe, bzw. der nicht erfolgte Schutz dieser vulnerablen Gruppen ist inakzeptabel und in keiner Weise entschuldbar!“
Die juristische Verantwortung
Diese Aussage gab Prof. Großkopf das Stichwort zur Überleitung in den juristischen Vorlesungsteil. In seinen Ausführungen beschränkte sich er auf die Skizzierung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Tötungsdelikte und lenkte hier die Aufmerksamkeit zunächst auf die kritische Hürde der Kausalität, weil der im strafrechtlichen Kontext anzulegende Beweismaßstab hier oftmals nicht erreicht werden kann.
„Hätte der Tod bei einem ordnungsgemäßen Verhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet werden können?“, lautete die Frage an seine Studierenden, die eine rege Diskussion über den Stellenwert der strafrechtlichen Verantwortung von Pflegedienst- und Heimleitungen, Pflegefachpersonal und den Behörden einleitete.
Nach einem mehrheitlichen Votum zugunsten des Kausalitätszusammenhangs wurden Fragen des Vorsatzes und die Spezialitäten des unechten Unterlassensdelikts thematisiert.
Die studentischen Meinungen
Während die Annahme des Vorsatzes für alle Tätergruppen von den Studierenden aus den von Andrea Würtz geschilderten Tatumständen für die Studierenden ohne Probleme vorgenommen worden ist, nahmen die Beiträge rund um die rechtliche Problematik der Garantenstellung im Rahmen des § 13 StGB einen breiten Raum ein.
Großkopf´s Hinweis, dass die Bewertung der Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassendeliktes, hier zum Beispiel wegen Totschlag durch Unterlassen, im Medizinstrafrecht allerdings häufig nur eine Bestrafung wegen Fahrlässigkeit mündet, wurde von der studentischen Gruppe mit Verwunderung aufgenommen.
Seine weiterführenden Aussagen zum Umfang der Rechtspflicht zur Verhinderung von Straftaten fingen die Skeptiker dann wieder auf.
„Grundsätzlich wird man Beschützergarantenstellung für diejenigen annehmen müssen, die für die Versorgung, Betreuung und den Schutz der Patienten zuständig sind“, zitierte Großkopf die führende Meinung in der Rechtswissenschaft.
Auf die Frage nach der Verantwortlichkeit für das Behördenversagen nahm er Bezug auf § 1 PfleWoqG (Pflege- und Wohnqualitätsgesetz), wonach unter anderem von der Aufsichtsbehörde in stationären Einrichtungen und sonstigen Wohnformen eine dem allgemein anerkannten Stand der fachlichen Erkenntnisse entsprechende Betreuung und Wohnqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner zu sichern ist.
Ob dieser gesetzliche Auftrag die Qualität einer gesetzlichen Garantenstellung erfüllt und die Verantwortlichen der Prüfbehörde zur Erfolgsabwendung hätte veranlassen müssen, gab er am Ende seines Vortrages den Studierenden als Hausaufgabe mit auf den Weg.
An der Katholischen Hochschule hat am 22.5.2023 eine bemerkenswerte Mustervorlesung stattgefunden, die die in einzigartiger Weise die Aspekte der Pflegepraxis, Pflegewissenschaft und Juristerei an einem aktuellen Beispiel für „Gefährliche Pflege“ vereinte.