Die Regularien für die Verordnungen von Verbandmitteln wurden verändert. Ausgehend von der Legaldefinition des Verbandmittels im Heil- und Hilfsmittelgesetz waren in dem Versorgungssektor „chronische Wunde“ in der Vergangenheit eine Fülle von Nachbesserungen, Interventionen und zum Teil inhaltlich kollidierender Gesetze zu beobachten. Seit der Änderung der Arzneimittel-Richtlinie scheint nun Ruhe eingekehrt zu sein. Die Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen (RDG) hat mit Juliane Pohl, Leiterin Referat Ambulante Gesundheitsversorgung beim Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) über die neue Situation gesprochen. Das Interview führte Chefredakteur Michael Schanz.
Rechtsdepesche: Sehr geehrte Frau Pohl, wieso hat der Prozess um die Verordnungsfähigkeit von Verbandmitteln so lange gedauert und sind Sie zufrieden mit den Ergebnissen?
Juliane Pohl: Uns wäre es auch lieber gewesen, wenn es schneller gegangen wäre! Aber es gab quasi eine doppelt-lange Verfahrensdauer: Zunächst ist der Bundestag 2017 mit dem „Heil- und Hilfsmittel-Versorgungsgesetz“ (HHVG) einen richtigen Schritt zur Versorgung mit Verbandmitteln gegangen. Nach Jahren der Unsicherheit gab es endlich eine vernünftige Regelung, vor allem für Menschen mit chronischen Wunden. Die meisten etablierten Verbandmittel wurden zugelassen, auch die modernen, hydroaktiven.
Allerdings ging es 2019 mit dem „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV) leider wieder zurück. Das GSAV hat Produkte wieder ausgeschlossen, die pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkungen haben. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA) hat mit der Änderung der Arzneimittel-Richtlinie dann noch eine Rolle rückwärts hingelegt. Laut Abschnitt P und der Anlage Va müssen bei den sogenannten Verbandmitteln und sonstigen Produkten zur Wundbehandlung unter anderem antimikrobielle und silberhaltige Wundauflagen ihren Nutzen gesondert nachweisen.
Das halten wir für einen großen Fehler, weil es viele im Praxisalltag erfolgreich verwendete Wundverbände nicht berücksichtigt. Das hat den Fortschritt des HHVG teilweise wieder einkassiert.
Wie gesagt: Schneller wäre besser gewesen. Vor allem für die betroffenen Patientinnen und Patienten. Und gut geregelt ist es bei Weitem noch nicht. Allein die sehr knappe Übergangsfrist von einem Jahr führt dazu, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten in absehbarer Zeit die gewohnten Verbandmittel nicht mehr nutzen können. Hier sind Versorgungsbrüche zu befürchten und bei antimikrobiellen Produkten auch der Einsatz von Antibiotika als Ersatz, was eigentlich zu vermeiden ist.
Rechtsdepesche: Sie sehen die Versorgung von Patienten mit Wundverbänden vor gefährlichen Engpässen. Wieso?
Pohl: Mit dem GSAV und der entsprechenden Arzneimittel-Richtlinie des G‑BA sind einige besonders wirkende Verbandmittel nicht mehr in der GKV erstattungsfähig. Diese antimikrobiellen und silberhaltigen Wundauflagen müssen nach einer Übergangsfrist neue, sehr aufwendige Wirkungsnachweise erbringen. Das schränkt die Vielfalt der modernen Verbandmittel stark ein.
Fallen diese Produkte ganz aus der Erstattung der GKV heraus, trifft das vor allem diejenigen, die sich diese notwendigen Produkte finanziell aus der eigenen Tasche nicht leisten können. Das wäre eine erhebliche Verschlechterung der Versorgung.
Außerdem besteht die Gefahr, dass etliche Verbandmittel für infizierte Wunden nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn deshalb dann Antibiotika verschrieben werden, widerspricht das dem medizinischen Grundsatz einer lokalen antimikrobiellen Therapie. Das kann die Entwicklung von resistenten Keimen fördern.
Rechtsdepesche: Was genau kritisieren Sie an der Änderung der Arzneimittel-Richtlinie im Bereich der Verbandmittel?
Pohl: Laut der G‑BA-Richtlinie sind bestimmte antimikrobielle Wundauflagen nur noch als sonstige Verbandmittel zugelassen, wenn sie in der Wundauflage wirken, nicht aber an oder in der Wunde selbst. Das ist in der Praxis völlig untauglich.Es ist kaum möglich, dies derartig lokal begrenzt nachzuweisen.
Besonders in der Therapie komplexer und infizierter Wunden würde das nach der einjährigen Übergangsfrist eine große Lücke reißen. Der Versorgungsanspruch von Patientinnen und Patienten wäre massiv eingeschränkt. Die geforderten Nutzennachweise für die betroffenen antimikrobiellen und silberhaltigen Wundauflagen sind so aufwendig, dass sie nicht rechtzeitig zu erbringen sind.
Diese Nachweise sind aber erforderlich, damit diese Produkte in die Anlage Va der Arzneimittel-Richtlinie aufgenommen und dann ausnahmsweise verordnet werden können. Ein Teufelskreis. Wenn der nicht durchbrochen wird, drohen erprobte und bewährte Produkte vom Markt zu verschwinden.
Rechtsdepesche: Es ist absehbar, dass es Friktionen im Bereich der nichtärztlichen Leistungserbringer in der Wundversorgung geben wird. Welche Position nimmt der Bundesverband Medizintechnologie in diesem Zusammenhang ein?
Pohl: Wir erwarten durch die zunehmende Ambulantisierung, durch die aktuellen politischen Anstrengungen durchaus Verschiebungen, auch in der Gesundheitsversorgung insgesamt. Viele Tätigkeiten werden sich neu ausrichten, beispielsweise durch die Stärkung und Aufwertung des Pflegeberufs, die Möglichkeit, Aufgaben zu delegieren. Diese Entwicklungen sind spannend. Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) befürwortet diese Veränderungen, die darauf ausgerichtet sind, die Versorgungsstrukturen und ‑prozesse effizienter und zukunftsfähiger zu gestalten. Diese Veränderungen betreffen dabei aber nicht allein die Ärztinnen und Ärzte oder die Pflegenden, sondern auch die weiteren Leistungserbringer im Versorgungsnetzwerk, so etwa die Homecare-Versorger.
Rechtsdepesche: Ist die neue Verordnungsfähigkeit und Abrechenbarkeit als vertragsärztliche Leistung der NPWT sachgerecht? Birgt diese Aufwertung nicht zusätzliche Probleme für die konventionellen Wundversorgungsprodukte?
Pohl: Die Zulassung der Vakuumversiegelungstherapie oder Negative Pressure Wound Therapy (NPWT) in der ambulanten Behandlung von Wunden ist sehr sinnvoll. Damit können mehr Patientinnen und Patienten von dieser innovativen Methode profitieren. Allerdings müssen ausschließlich die anwendenden Ärztinnen und Ärzte auch den Verband wechseln. Das ist ziemlich alltagsfern, denn die Patientinnen und Patienten müssen extra in die Praxis kommen oder zu Hause besucht werden. Der Verbandwechsel sollte stattdessen auch durch qualifiziertes Personal in den Praxen, der häuslichen Krankenpflege oder weiterhin durch Homecare-Versorger möglich sein. Für andere Wundversorgungsprodukte sieht der BVMed keine Probleme.
Rechtsdepesche: Bis zum Ablauf der einjährigen Übergangsfrist bleibt der Status quo in der Verordnungssituation erhalten. Ist diese Frist Ihrer Meinung nach auskömmlich?
Pohl: Nein, absolut nicht! Die geforderten Studien zum Nutzennachweis sonstiger Wundversorgungsprodukte sind in einem Jahr nicht zu erbringen. Das zeigen Erfahrungen aus anderen Bereichen überdeutlich. Das Studiendesign ist teilweise aufwendiger als für Medizinprodukte. Schon jetzt ist es aufgrund der individuellen Wundsituation oft sehr schwierig, genügend Studienteilnehmerinnen und ‑teilnehmer zu finden. Und die wegen der Coronapandemie geltenden Kontaktbeschränkungen machen es noch komplizierter, wenn nicht ganz unmöglich. Außerdem sind die erforderlichen Verfahren noch nicht klar geregelt: Wie sollen die betroffenen Unternehmen da tätig werden?
Rechtsdepesche: Welche Maßstäbe sollten an den Wirksamkeitsnachweis für die Produkte mit zusätzlichem Nutzen angelegt werden?
Pohl: Evidenz ist gut und zwingend erforderlich. Ihre Wirksamkeit haben die fraglichen Produkte aber schon längst nachgewiesen. Die jetzt zusätzlich geforderten Studien sind daher ein unnötiger bürokratischer Doppelstandard. Es handelt sich um bereits zugelassene Medizinprodukte mit CE-Kennzeichnung, für die die europäische Medical Device Regulation gilt. Wenn darüber hinaus tatsächlich noch mehr Nachweise nötig sein sollen, ist eine Übergangsfrist von mindestens drei Jahren realistisch.
Rechtsdepesche: Wie sieht ein tragfähiges Konzept für eine zukunftssichere ambulante Wundversorgung aus?
Pohl: Wir empfehlen den Aufbau von interprofessionellen Versorgungsnetzwerken. Darin müssen alle beteiligten Berufsgruppen mit ihren jeweiligen Qualifikationen eng zusammenarbeiten. Eine adäquate und letztlich erfolgreiche Wundversorgung ist nicht allein von Ärztinnen und Ärzten oder Versorgenden sowie Pflegenden zu schaffen. Das funktioniert nur Hand in Hand.
Wie in vielen Bereichen unseres Alltags ist die Digitalisierung ein großes Thema. Sie kann durchaus sinnvoll sein. Aber gerade für die Medizin und die Gesundheit darf die digitale Unterstützung auf keinen Fall den wichtigen persönlichen Kontakt zum Menschen und die Versorgung vor Ort ersetzen.
Rechtsdepesche: Frau Pohl, haben Sie vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.