Angelika Zegelin
Angelika Zegelin (71) Bild: privat

#1: Schon ihre Mutter war in der Pflege tätig

Angelika Zegelin ist eine der Haupt­fi­gu­ren der Pflege in Deutsch­land. Ein Zufall ist das nicht. Ihre Mutter war Dauer­nacht­schwes­ter und arbei­tete direkt gegen­über vom Wohnhaus der Familie. Oft besuchte sie ihre Mutter abends, um ihr noch etwas vorbei­zu­brin­gen.

Schon früh sorgte das für Bewun­de­rung bei Tochter Angelika: „Da habe ich gesehen, was die Frau leistet. Das war für mich total beein­dru­ckend. Meine Mutter war sehr beliebt bei den Patien­ten und wenn sie auf die Station kam, wollte direkt jeder was von ihr. Das hat mich schon früh geprägt“.

Als Zegelin zwölf Jahre alt war, starb ihr Vater. Die Mutter war allein­er­zie­hend, musste neben der Arbeit noch für drei Kinder sorgen. Die beiden jünge­ren Geschwis­ter waren lern- bzw. geistig behin­dert. Deshalb musste die älteste Tochter dann schnel­ler als gedacht in die Fußstap­fen ihrer Mutter treten. „Ich wäre gerne länger in die Schule gegan­gen – ich liebe es neue Dinge zu lernen. Aber das ging aus finan­zi­el­len Gründen nicht“.

Mit 13 Jahren verlässt Zegelin die Schule und wird Pflege­vor­schü­le­rin. Für 44 Stunden in der Woche gab es gerade mal 120 Mark. Jeden Tag musste sie dafür um halb fünf morgens aufste­hen, um in das 20 Kilome­ter entfernte Kranken­haus zu kommen. „Das war grausam, das kann man sich gar nicht vorstel­len“, erinnert sie sich.

Mit der Pflege­vor­schule verbinde sie heute viele negative Gedan­ken. „Das war mehr eine Tugen­der­zie­hung aus heuti­ger Sicht. Da hat man gelernt, wie man sich als Schwes­ter hinsetzt, wie man Häubchen faltet – also eine verschärfte Mädchen­bil­dung“, erzählt sie. Ein Zustand, der sie nachhal­tig beein­flusst hat und den sie unbedingt ändern wollte.

#2: Es gibt nie genug zu tun

Die Schul­zeit, die sie als Teenage­rin verlo­ren hatte, holte sie später in der Abend­schule nach. Sie machte den Realschul­ab­schluss auf dem zweiten Bildungs­weg, fing mit 17 dann die Ausbil­dung an und machte 1972 ihr Kranken­pfle­ge­ex­amen. Danach arbei­tete sie zunächst auf einer unfall­chir­ur­gi­schen Inten­siv­sta­tion, ehe sie zwei Jahre später Pflege­leh­re­rin in einer Kranken­pfle­ge­schule wird.

Dass sie in die Lehre ging, lag neben der Freude daran, anderen etwas beizu­brin­gen vor allem an einer Sache: „Der Grund für mich war, dass ich mir dachte, die Pflege­aus­bil­dung hier ist grotten­schlecht – mehr auf Gehor­sam und Unter­ord­nung gerich­tet. Es gab praktisch noch keinen richti­gen Pflege­un­ter­richt. Das hat mich auf die Weiter­bil­dung zur Unter­richts­schwes­ter gebracht“.

Doch damit nicht genug: 1982 fing sie zusätz­lich ihr Studium der Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten an und schloss im Jahr 2004 sogar noch ihre Disser­ta­tion zum Thema Bettlä­ge­rig­keit ab.

Das alles leistete sie neben­be­ruf­lich, während sie eigent­lich Pflege­leh­re­rin war, später sogar beim Bildungs­zen­trum des DBfK Leite­rin für Fort- und Weiter­bil­dun­gen wurde und schließ­lich als Pflege­wis­sen­schaft­le­rin an der Uni Witten/Herdecke arbei­tete.

Zusätz­lich zu all dem musste sie zu Hause ihre Tochter großzie­hen und ihren Mann aus erster Ehe pflegen, der wegen einer Krebs­er­kran­kung schon früh in Rente gegan­gen war.

Wie sie das alles paral­lel geschafft hat? Mit Freude, sagt sie. „Wenn man sich die ganze Zeit nur herum­är­gert, dann bringt das nichts. Ich habe aber auch immer viel Wertschät­zung erfah­ren, auch in der Pflege“. Durch sehr viel Lob und Dankbar­keit habe sie immer neue Kraft geschöpft.

#3: Sie gilt als eine der Vorrei­te­rin­nen für die Pflege

Während ihrer Zeit in der Pflege­schule machte Zegelin eine Bekannt­schaft, die der Start­schuss für ihr beson­de­res Wirken in der deutschen Pflege sein sollte. Die damals schon beim DBfK aktive Chris­tel Bienst­ein besuchte die Pflege­schule von Zegelin, um dort eine Weiter­bil­dung anzubie­ten. Die beiden lernten sich kennen und so fand sie schon früh den Weg in den DBfK.

Zusam­men mit weite­ren namhaf­ten Frauen bilde­ten Zegelin und Bienst­ein die Arbeits­ge­mein­schaft Pflege­for­schung. Sie machten es sich zur Aufgabe, die Pflege in Deutsch­land besser zu ergrün­den und die Akade­mi­sie­rung voran­zu­trei­ben. „Das war eine sehr aufre­gende Zeit. Damals gab es ja noch keine Pflege­wis­sen­schaf­ten in Deutsch­land“, erinnert sich Zegelin.

Die kleine Gruppe wollte das Wissen aus ihren Studi­en­gän­gen für die Pflege­pra­xis zusam­men­füh­ren. All das ehren­amt­lich und ohne Entgelt. „15 Jahre haben wir gebag­gert, damit sich da irgend­was entwi­ckelt. Was sehr schwer war. Die Pflegen­den sind auch heute noch kaum organi­siert und haben keine Lobby“, sagt Zegelin.

Mit gemein­sa­mer Anstren­gung schaff­ten sie es jedoch erste Studien und Projekte zur Pflege durch­zu­füh­ren. Ein erster Meilen­stein war 1987 die Einfüh­rung des ersten Studi­en­gangs für Pflege an der Fachhoch­schule Osnabrück.

Prägend war Zegelin jedoch nicht nur durch ihre Arbeit beim DBfK. Als Pflege­leh­re­rin hat sie auch ihre Schüle­rin­nen und Schüler „aufmüp­fig“ gemacht, wie sie sagt: „Ich hab auch noch zu vielen heute Kontakt. Ich habe 20 Jahre da gearbei­tet und eine andere Lehre gemacht als üblich war.“ Im Hinter­kopf hatte sie dabei stets ihre eigenen Erfah­run­gen aus der Pflege­vor­schule und den Willen, all das besser zu machen.

#4: Zegelin will der Pflege eine Stimme geben

Als Lehre­rin und Profes­so­rin hat sie nicht nur Wissen vermit­telt, sondern später an der Uni auch selbst geforscht. Nach ihrer Disser­ta­tion zum Thema Bettlä­ge­rig­keit beschäf­tigte sich Zegelin weiter­hin in zahlrei­chen Projek­ten mit der Mobili­täts­för­de­rung von Heimbe­woh­ne­rin­nen und ‑Bewoh­nern.

Außer­dem hat sie zur „Patien­ten- und Famili­en­e­du­ka­tion“ geforscht. Durch Infor­ma­tion, Beratung, Schulung und Modera­tion soll hierbei der Gesund­heits­zu­stand und das Lebens­ge­fühl der Patien­ten verbes­sert werden. Zentral ist hier die Einbin­dung der Familie. Dazu hat sie die „Witte­ner Werkzeuge“ entwi­ckelt, die von Pflegen­den genutzt werden können, um bessere Beratungs­ge­sprä­che zu führen.

Zudem hat sie das Forschungs­feld „Sprache und Pflege“ ergrün­det, für das sie flächen­de­ckende Bekannt­heit erlangt hat. Grund für ihre Unter­su­chun­gen war für sie die Tatsa­che, dass die Pflege zu jener Zeit über keine eigene Sprache verfügte. „Wir durften damals nicht mit den Patien­ten sprechen – nur die Ärzte. Die Pflegen­den hatten damals keine eigene Sprache“, sagt Zegelin.

Wörter wie „Bettlä­ge­rig­keit“ habe es damals noch nicht gegeben. Durch ihre Forschung und eine eigene Sprache wollte sie die Pflege ermäch­ti­gen. „In der Ausbil­dung ist mir aufge­fal­len, dass wir gar keine Ausdrü­cke dafür haben, was wir machen. Das, was sprach­lich nicht da ist, existiert auch nicht“, erklärt sie. Deshalb sollten Pflegende in der Lage sein, durch eigenes Vokabu­lar ihre Arbeit zu beschrei­ben und für andere nachvoll­zieh­bar zu machen.

Für ihre Forschung und ihr Wirken hat Zegelin einige Preise erhal­ten. So auch 2009 das Bundes­ver­dienst­kreuz. Die Mathias-Fachhoch­schule in Rheine hat ihr 2011 eine Ehren­pro­fes­sur verlie­hen. Was von ihren Aktivi­tä­ten die wichtigste war, kann sie nicht genau sagen. „Das waren „Paral­lel­be­we­gun­gen“, sagt sie.

Erst im Nachhin­ein falle ihr auf, dass es in all ihren Arbei­ten doch einen roten Faden gebe: die Kommu­ni­ka­tion. „Im Grunde hängt alles zusam­men mit Versprach­li­chung und dadurch die Pflege deutli­cher machen. Gesell­schaft­lich wird die Pflege ja wahrge­nom­men als eine Anein­an­der­rei­hung von einfa­chen Tätig­kei­ten“. Für sie habe sich daran auch heute nicht viel geändert.

#5: Angelika Zegelin: Stets wissbe­gie­rig und voller Taten­drang

„Ich habe jetzt über 50 Jahre etwas gemacht in der Pflege und ich muss sagen, ich bin enttäuscht. Ich habe mir das irgend­wie anders vorge­stellt“, sagt Zegelin ein wenig ernüch­tert. Die anfäng­li­che Eupho­rie, mit der sie die Pflege voran­brin­gen wollte, ist verflo­gen.

Der akade­mi­sche Betrieb habe sich norma­li­siert und gleich­zei­tig entfernt von der Praxis. „Norma­ler­weise geht es bei einem Studium darum, dass das neue Wissen schnell in die Berufe gelangt. In der Pflege ist das egal. Die arbei­ten teilweise noch nach hundert Jahre alten Metho­den“.

Was sie schon zu ihrer Zeit in der Arbeits­gruppe Pflege­for­schung gelernt hatte, gilt für sie auch heute noch: „Deutsch­land ist weltweit das rückstän­digste Land in der Pflege­ent­wick­lung. Wir sind nicht organi­siert, wir haben nichts zu sagen und es mangelt an politi­scher Bildung. Wir sind hinter allen in Mittel­eu­ropa weit zurück. Die schüt­teln alle den Kopf.“

Sie klingt ein bisschen wehlei­dig, wenn sie das sagt. Aber das hat wohl weniger mit ihr selbst zu tun. „Ich bin natür­lich zufrie­den mit mir. Ich habe aus allen Rohren geschos­sen“, sagt sie stolz.

Mit mittler­weile 71 ist sie zwar schon in Rente aber tut immer noch viel für die Pflege in Deutsch­land. Aktuell geht es ihr vor allem darum, den Berufs­stolz zu steigern und gleich­zei­tig für mehr Wahrneh­mung des Berufs in der Gesell­schaft zu sorgen.

Aber auch ein Kinder­buch über die Pflege wolle sie noch schrei­ben. „Ich habe immer Ideen. Solange mir was einfällt, mache ich weiter“, sagt sie lachend. Doch nach all den Jahren Arbeit im Akkord, habe sie schon manch­mal das Gefühl, dass sie selbst auf der Strecke geblie­ben sei.

Zum Ausgleich gehe sie dann in ihren Schre­ber­gar­ten. Doch auch das Reisen war für sie immer eine Möglich­keit, sich selbst zu finden – auch heute noch. Bis jetzt war sie in 140 Ländern, von der Welt will sie trotz­dem noch einiges sehen:

„Ich habe mir als Kind eine Liste gemacht, wo ich überall hin will – mit den wichtigs­ten Bars, Kneipen, Märkten, Fried­hö­fen, allen Wüsten und Wasser­fäl­len.“ Das Wichtigste habe sie erreicht, jetzt sei nur noch ein bisschen Klein­kram übrig.