#1: Schon ihre Mutter war in der Pflege tätig
Angelika Zegelin ist eine der Hauptfiguren der Pflege in Deutschland. Ein Zufall ist das nicht. Ihre Mutter war Dauernachtschwester und arbeitete direkt gegenüber vom Wohnhaus der Familie. Oft besuchte sie ihre Mutter abends, um ihr noch etwas vorbeizubringen.
Schon früh sorgte das für Bewunderung bei Tochter Angelika: „Da habe ich gesehen, was die Frau leistet. Das war für mich total beeindruckend. Meine Mutter war sehr beliebt bei den Patienten und wenn sie auf die Station kam, wollte direkt jeder was von ihr. Das hat mich schon früh geprägt“.
Als Zegelin zwölf Jahre alt war, starb ihr Vater. Die Mutter war alleinerziehend, musste neben der Arbeit noch für drei Kinder sorgen. Die beiden jüngeren Geschwister waren lern- bzw. geistig behindert. Deshalb musste die älteste Tochter dann schneller als gedacht in die Fußstapfen ihrer Mutter treten. „Ich wäre gerne länger in die Schule gegangen – ich liebe es neue Dinge zu lernen. Aber das ging aus finanziellen Gründen nicht“.
Mit 13 Jahren verlässt Zegelin die Schule und wird Pflegevorschülerin. Für 44 Stunden in der Woche gab es gerade mal 120 Mark. Jeden Tag musste sie dafür um halb fünf morgens aufstehen, um in das 20 Kilometer entfernte Krankenhaus zu kommen. „Das war grausam, das kann man sich gar nicht vorstellen“, erinnert sie sich.
Mit der Pflegevorschule verbinde sie heute viele negative Gedanken. „Das war mehr eine Tugenderziehung aus heutiger Sicht. Da hat man gelernt, wie man sich als Schwester hinsetzt, wie man Häubchen faltet – also eine verschärfte Mädchenbildung“, erzählt sie. Ein Zustand, der sie nachhaltig beeinflusst hat und den sie unbedingt ändern wollte.
#2: Es gibt nie genug zu tun
Die Schulzeit, die sie als Teenagerin verloren hatte, holte sie später in der Abendschule nach. Sie machte den Realschulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg, fing mit 17 dann die Ausbildung an und machte 1972 ihr Krankenpflegeexamen. Danach arbeitete sie zunächst auf einer unfallchirurgischen Intensivstation, ehe sie zwei Jahre später Pflegelehrerin in einer Krankenpflegeschule wird.
Dass sie in die Lehre ging, lag neben der Freude daran, anderen etwas beizubringen vor allem an einer Sache: „Der Grund für mich war, dass ich mir dachte, die Pflegeausbildung hier ist grottenschlecht – mehr auf Gehorsam und Unterordnung gerichtet. Es gab praktisch noch keinen richtigen Pflegeunterricht. Das hat mich auf die Weiterbildung zur Unterrichtsschwester gebracht“.
Doch damit nicht genug: 1982 fing sie zusätzlich ihr Studium der Erziehungswissenschaften an und schloss im Jahr 2004 sogar noch ihre Dissertation zum Thema Bettlägerigkeit ab.
Das alles leistete sie nebenberuflich, während sie eigentlich Pflegelehrerin war, später sogar beim Bildungszentrum des DBfK Leiterin für Fort- und Weiterbildungen wurde und schließlich als Pflegewissenschaftlerin an der Uni Witten/Herdecke arbeitete.
Zusätzlich zu all dem musste sie zu Hause ihre Tochter großziehen und ihren Mann aus erster Ehe pflegen, der wegen einer Krebserkrankung schon früh in Rente gegangen war.
Wie sie das alles parallel geschafft hat? Mit Freude, sagt sie. „Wenn man sich die ganze Zeit nur herumärgert, dann bringt das nichts. Ich habe aber auch immer viel Wertschätzung erfahren, auch in der Pflege“. Durch sehr viel Lob und Dankbarkeit habe sie immer neue Kraft geschöpft.
#3: Sie gilt als eine der Vorreiterinnen für die Pflege
Während ihrer Zeit in der Pflegeschule machte Zegelin eine Bekanntschaft, die der Startschuss für ihr besonderes Wirken in der deutschen Pflege sein sollte. Die damals schon beim DBfK aktive Christel Bienstein besuchte die Pflegeschule von Zegelin, um dort eine Weiterbildung anzubieten. Die beiden lernten sich kennen und so fand sie schon früh den Weg in den DBfK.
Zusammen mit weiteren namhaften Frauen bildeten Zegelin und Bienstein die Arbeitsgemeinschaft Pflegeforschung. Sie machten es sich zur Aufgabe, die Pflege in Deutschland besser zu ergründen und die Akademisierung voranzutreiben. „Das war eine sehr aufregende Zeit. Damals gab es ja noch keine Pflegewissenschaften in Deutschland“, erinnert sich Zegelin.
Die kleine Gruppe wollte das Wissen aus ihren Studiengängen für die Pflegepraxis zusammenführen. All das ehrenamtlich und ohne Entgelt. „15 Jahre haben wir gebaggert, damit sich da irgendwas entwickelt. Was sehr schwer war. Die Pflegenden sind auch heute noch kaum organisiert und haben keine Lobby“, sagt Zegelin.
Mit gemeinsamer Anstrengung schafften sie es jedoch erste Studien und Projekte zur Pflege durchzuführen. Ein erster Meilenstein war 1987 die Einführung des ersten Studiengangs für Pflege an der Fachhochschule Osnabrück.
Prägend war Zegelin jedoch nicht nur durch ihre Arbeit beim DBfK. Als Pflegelehrerin hat sie auch ihre Schülerinnen und Schüler „aufmüpfig“ gemacht, wie sie sagt: „Ich hab auch noch zu vielen heute Kontakt. Ich habe 20 Jahre da gearbeitet und eine andere Lehre gemacht als üblich war.“ Im Hinterkopf hatte sie dabei stets ihre eigenen Erfahrungen aus der Pflegevorschule und den Willen, all das besser zu machen.
#4: Zegelin will der Pflege eine Stimme geben
Als Lehrerin und Professorin hat sie nicht nur Wissen vermittelt, sondern später an der Uni auch selbst geforscht. Nach ihrer Dissertation zum Thema Bettlägerigkeit beschäftigte sich Zegelin weiterhin in zahlreichen Projekten mit der Mobilitätsförderung von Heimbewohnerinnen und ‑Bewohnern.
Außerdem hat sie zur „Patienten- und Familienedukation“ geforscht. Durch Information, Beratung, Schulung und Moderation soll hierbei der Gesundheitszustand und das Lebensgefühl der Patienten verbessert werden. Zentral ist hier die Einbindung der Familie. Dazu hat sie die „Wittener Werkzeuge“ entwickelt, die von Pflegenden genutzt werden können, um bessere Beratungsgespräche zu führen.
Zudem hat sie das Forschungsfeld „Sprache und Pflege“ ergründet, für das sie flächendeckende Bekanntheit erlangt hat. Grund für ihre Untersuchungen war für sie die Tatsache, dass die Pflege zu jener Zeit über keine eigene Sprache verfügte. „Wir durften damals nicht mit den Patienten sprechen – nur die Ärzte. Die Pflegenden hatten damals keine eigene Sprache“, sagt Zegelin.
Wörter wie „Bettlägerigkeit“ habe es damals noch nicht gegeben. Durch ihre Forschung und eine eigene Sprache wollte sie die Pflege ermächtigen. „In der Ausbildung ist mir aufgefallen, dass wir gar keine Ausdrücke dafür haben, was wir machen. Das, was sprachlich nicht da ist, existiert auch nicht“, erklärt sie. Deshalb sollten Pflegende in der Lage sein, durch eigenes Vokabular ihre Arbeit zu beschreiben und für andere nachvollziehbar zu machen.
Für ihre Forschung und ihr Wirken hat Zegelin einige Preise erhalten. So auch 2009 das Bundesverdienstkreuz. Die Mathias-Fachhochschule in Rheine hat ihr 2011 eine Ehrenprofessur verliehen. Was von ihren Aktivitäten die wichtigste war, kann sie nicht genau sagen. „Das waren „Parallelbewegungen“, sagt sie.
Erst im Nachhinein falle ihr auf, dass es in all ihren Arbeiten doch einen roten Faden gebe: die Kommunikation. „Im Grunde hängt alles zusammen mit Versprachlichung und dadurch die Pflege deutlicher machen. Gesellschaftlich wird die Pflege ja wahrgenommen als eine Aneinanderreihung von einfachen Tätigkeiten“. Für sie habe sich daran auch heute nicht viel geändert.
#5: Angelika Zegelin: Stets wissbegierig und voller Tatendrang
„Ich habe jetzt über 50 Jahre etwas gemacht in der Pflege und ich muss sagen, ich bin enttäuscht. Ich habe mir das irgendwie anders vorgestellt“, sagt Zegelin ein wenig ernüchtert. Die anfängliche Euphorie, mit der sie die Pflege voranbringen wollte, ist verflogen.
Der akademische Betrieb habe sich normalisiert und gleichzeitig entfernt von der Praxis. „Normalerweise geht es bei einem Studium darum, dass das neue Wissen schnell in die Berufe gelangt. In der Pflege ist das egal. Die arbeiten teilweise noch nach hundert Jahre alten Methoden“.
Was sie schon zu ihrer Zeit in der Arbeitsgruppe Pflegeforschung gelernt hatte, gilt für sie auch heute noch: „Deutschland ist weltweit das rückständigste Land in der Pflegeentwicklung. Wir sind nicht organisiert, wir haben nichts zu sagen und es mangelt an politischer Bildung. Wir sind hinter allen in Mitteleuropa weit zurück. Die schütteln alle den Kopf.“
Sie klingt ein bisschen wehleidig, wenn sie das sagt. Aber das hat wohl weniger mit ihr selbst zu tun. „Ich bin natürlich zufrieden mit mir. Ich habe aus allen Rohren geschossen“, sagt sie stolz.
Mit mittlerweile 71 ist sie zwar schon in Rente aber tut immer noch viel für die Pflege in Deutschland. Aktuell geht es ihr vor allem darum, den Berufsstolz zu steigern und gleichzeitig für mehr Wahrnehmung des Berufs in der Gesellschaft zu sorgen.
Aber auch ein Kinderbuch über die Pflege wolle sie noch schreiben. „Ich habe immer Ideen. Solange mir was einfällt, mache ich weiter“, sagt sie lachend. Doch nach all den Jahren Arbeit im Akkord, habe sie schon manchmal das Gefühl, dass sie selbst auf der Strecke geblieben sei.
Zum Ausgleich gehe sie dann in ihren Schrebergarten. Doch auch das Reisen war für sie immer eine Möglichkeit, sich selbst zu finden – auch heute noch. Bis jetzt war sie in 140 Ländern, von der Welt will sie trotzdem noch einiges sehen:
„Ich habe mir als Kind eine Liste gemacht, wo ich überall hin will – mit den wichtigsten Bars, Kneipen, Märkten, Friedhöfen, allen Wüsten und Wasserfällen.“ Das Wichtigste habe sie erreicht, jetzt sei nur noch ein bisschen Kleinkram übrig.