Sexualität
Liebe, Verbun­den­heit, Nähe: Sexua­li­tät gehört zum Leben, auch in der Pflege Bild: Desirée Gorges

Ein Auszug aus der Defini­tion „Sexuelle Gesund­heit“ der WHO:

„Wenn sexuelle Gesund­heit erreicht und bewahrt werden soll, müssen die sexuel­len Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und einge­hal­ten werden.“

Wenn es keine Sexua­li­tät gäbe, gäbe es keine Menschen und folglich auch keine Defini­tio­nen und Gesetze, welche die Bedeu­tung und das Recht auf Sexua­li­tät extra festschrei­ben müssten. Doch die natür­lichste und elemen­tarste Sache der Welt hat im Laufe der mensch­li­chen Evolu­tion den Weg in einen ganzen Schrank voller Schub­la­den gefun­den. Manche davon stehen offen, andere bleiben verschlos­sen, wieder andere klemmen oder öffnen sich erst mit der Zeit.

Sexua­li­tät in der Pflege ist eine Schub­lade, die lange geklemmt und sich in den letzten Jahren langsam geöff­net hat. Sie ist randvoll und so komplex bestückt, dass sich ein eigener Schub­la­den­schrank mit den Inhal­ten befül­len ließe. Sortiert nach Fakten könnte dieser so ausse­hen:

#1: Sexuel­les Grund­be­dürf­nis

Der wichtigste Fakt zuerst: Jeder Mensch hat sexuelle Bedürf­nisse, auch ältere Menschen und Menschen mit Behin­de­run­gen oder Erkran­kun­gen. Wenn Menschen auf Pflege angewie­sen sind, sind sie in irgend­ei­ner Form auch auf Unter­stüt­zung bei der Erfül­lung ihrer sexuel­len Bedürf­nisse angewie­sen.

Das Ausmaß hängt dabei von indivi­du­el­len Fakto­ren, wie dem Grad der Pflege­be­dürf­tig­keit, Art der Einschrän­kung und der jewei­li­gen Persön­lich­keit ab. Die Unter­stüt­zung reicht von geschütz­ten Räumen in Pflege­ein­rich­tun­gen bis zur profes­sio­nel­len Sexual­be­glei­tung.

Für Pflege­fach­kräfte und pflegende Angehö­rige, die mit den sexuel­len Bedürf­nis­sen konfron­tiert werden, kann das schwie­rig sein, beson­ders in grenz­über­schrei­ten­den Situa­tio­nen.

Die Grenzen sind dabei genauso indivi­du­ell wie die Unter­stüt­zung, die pflege­be­dürf­tige Menschen zum Erleben von Sexua­li­tät benöti­gen. So können anzüg­li­ches Verhal­ten oder der Umgang mit sexuell enthemm­ten Perso­nen, die zum Beispiel infolge einer Demenz in der Öffent­lich­keit onanie­ren, aber auch persön­li­che Werte, Scham und Moral­vor­stel­lun­gen zu großer Belas­tung führen.

Um dem entge­gen­zu­wir­ken, sind Aufklä­rung, Beratung, gute und offene Kommu­ni­ka­tion sowie Schulun­gen und Konzepte für Fachkräfte und Einrich­tun­gen unver­zicht­bar.

#2: Sexuelle Dimen­sio­nen

„Sexuelle Gesund­heit ist der Zustand körper­li­chen, emotio­na­len, geisti­gen und sozia­len Wohlbe­fin­dens bezogen auf die Sexua­li­tät und bedeu­tet nicht nur die Abwesen­heit von Krank­heit, Funkti­ons­stö­run­gen oder Schwä­che.“

(Auszug Defini­tion „Sexuelle Gesund­heit“, WHO)

Sexua­li­tät geht weit hinaus über den bloßen Geschlechts­akt oder Mastur­ba­tion. Neben Lust, Erregung und Selbst­er­fah­rung, bedeu­tet Sexua­li­tät auch Zärtlich­keit, Nähe, Körper­kon­takt, Gebor­gen­heit. Kurzum: Sexua­li­tät vereint ein Spektrum schöns­ter Gefühle, die das Wohlbe­fin­den eines Menschen steigern und somit auch die Gesund­heit fördern.

Darüber hinaus schafft Sexua­li­tät lebens­lange Verbun­den­heit, wenn Kinder daraus entste­hen. Der Fortpflan­zungs­ge­danke ist im hohen Alter vielleicht weniger relevant – bei jünge­ren Menschen mit Behin­de­run­gen kann der Kinder­wunsch aber durch­aus bestehen und auch die Unter­stüt­zung von Angehö­ri­gen oder profes­sio­nel­len Kräften erfor­dern.

#3: Sexua­li­tät: Recht auf Selbst­be­stim­mung

„Sexuelle Gesund­heit erfor­dert sowohl eine positive, respekt­volle Heran­ge­hens­weise an Sexua­li­tät und sexuelle Bezie­hun­gen als auch die Möglich­keit für lustvolle und sichere sexuelle Erfah­run­gen, frei von Unter­drü­ckung, Diskri­mi­nie­rung und Gewalt.“

(Auszug Defini­tion „Sexuelle Gesund­heit“, WHO)

Sexuelle Selbst­be­stim­mung ist nicht nur im gesund­heit­li­chen Kontext bei der Weltge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion (WHO) festge­schrie­ben. Sexuelle Selbst­be­stim­mung ist ein Menschen­recht, veran­kert in der UN-Menschen­rechts­kon­ven­tion und im Grund­ge­setz (GG).

Darüber hinaus wurden mit der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion die Rechte von Menschen mit Behin­de­run­gen ausdrück­lich bestärkt. Die sexuelle Selbst­be­stim­mung ist davon einge­schlos­sen. In Deutsch­land ist sie zudem in weite­ren Geset­zen, wie dem Sozial­ge­setz­buch (SGB) oder den Wohn- und Teilha­be­ge­set­zen (WTG) der Bundes­län­der verknüpft.

Da sexuelle Selbst­be­stim­mung und spezi­elle Leistun­gen für pflege­be­dürf­tige Menschen jedoch nicht immer eindeu­tig erwähnt werden, sind sowohl in der Umset­zung als auch in der Recht­spre­chung verschie­dene Ausle­gun­gen möglich. Ein Beispiel hierfür ist die Kosten­über­nahme bei der Sexual­as­sis­tenz:

Gemäß § 29 SGB IX kann ein Persön­li­ches Budget für Leistun­gen der Sozia­len Teilhabe von Menschen mit Behin­de­run­gen beantragt werden. In § 76 SGB IX werden die Leistun­gen aufge­führt, darun­ter fallen auch „Assis­tenz­leis­tun­gen“. Sexual­as­sis­tenz wird jedoch nicht ausdrück­lich erwähnt. Der Wissen­schaft­li­che Dienst des Deutschen Bundes­ta­ges kam in einem Sachstand im Jahr 2018 noch zu dem Fazit, dass keine gesetz­li­che Grund­lage zur Kosten­über­nahme von Sexual­as­sis­tenz durch Sozial­ver­si­che­rungs­trä­ger gegeben ist.

Die Kosten müssen demnach durch eigenes Einkom­men oder den Regel­satz der Sozial­hilfe bestrit­ten werden. Ein Urteil aus dem Jahr 2022 hat dagegen den Weg in die andere Richtung gewie­sen und einem jungen Mann Recht gegeben, dem die Kosten­über­nahme für die Sexual­as­sis­tenz nach § 29 SGB IX zunächst von der gesetz­li­chen Unfall­ver­si­che­rung bewil­ligt und dann verwei­gert wurde, worauf­hin er geklagt hatte.

Da sexuelle Selbst­be­stim­mung nicht nur Freiheit bedeu­tet, sondern auch Schutz verlangt, findet sie auch im Straf­ge­setz­buch (StGB) unter § 177 gegen sexuelle Übergriffe, Nötigung und Verge­wal­ti­gung ihren Bezug.

#4: Missbrauch und Gewalt

Sexuelle Selbst­be­stim­mung hört auf, wo das Recht einer anderen Person verletzt wird. Beson­ders im Pflege­um­feld ist das ein zweischnei­di­ges Schwert, denn ein pflege­be­dürf­ti­ger Mensch kann Opfer, aber auch Täter sein.

Unter­su­chun­gen haben ergeben, dass pflege­be­dürf­tige Menschen einem höheren Risiko ausge­setzt sind, Opfer von sexuel­lem Missbrauch und Gewalt zu werden. Frauen und Mädchen mit Behin­de­run­gen sowie ältere Frauen sind dabei beson­ders betrof­fen. Die Täter sind oft im nächs­ten Umfeld zu finden, etwa in der Familie oder in einer Einrich­tung.

Umgekehrt können pflege­be­dürf­tige Menschen durch unange­mes­se­nes oder öffent­li­ches Sexual­ver­hal­ten anderen Perso­nen schaden. Auch wenn dies oftmals auf Erkran­kun­gen wie Demenz oder geistige Entwick­lungs­stö­run­gen zurück­zu­füh­ren ist, stellt es betrof­fene Angehö­rige und Pflege­fach­kräfte vor große Heraus­for­de­run­gen, die nicht mit einem pauscha­len Rezept zu bewäl­ti­gen sind.

#5: Lösun­gen und Maßnah­men

Sexua­li­tät in der Pflege ist vielschich­tig und von indivi­du­el­len Fakto­ren geprägt – das gilt auch für den Umgang damit. Es gibt keine univer­selle Lösung, sondern unter­schied­li­che Möglich­kei­ten und bewährte Maßnah­men. Dazu zählen zum Beispiel:

Praktisch

  • Pflege­be­dürf­ti­gen Menschen Rückzugs­orte und Zeit für Partner­sex oder Mastur­ba­tion geben
  • Beschaf­fung von Sexspiel­zeug und porno­gra­fi­schen Materia­lien
  • Direkte oder techni­sche Hilfe­stel­lun­gen bei körper­li­chen Einschrän­kun­gen
  • Hilfe beim Kontak­te­knüp­fen
  • Profes­sio­nelle Sexual­as­sis­tenz/-beglei­tung

Allge­mein

  • Offener Umgang und Kommu­ni­ka­tion
  • Neutra­li­tät und Akzep­tanz, zum Beispiel im Hinblick auf die sexuelle Orien­tie­rung oder Fetische von Bewoh­nern
  • Konzepte in Einrich­tun­gen, die den Umgang mit Sexua­li­tät regeln
  • Schulun­gen und Super­vi­sio­nen für Pflege­fach­kräfte
  • Beratung durch Sexual­ex­per­ten für Einrich­tun­gen und Angehö­rige
  • Aufklä­rung über die Auswir­kun­gen von Pflege­be­dürf­tig­keit oder Krank­heit auf das Sexual­le­ben
  • Einbe­zie­hung von Partnern

Quellen: Bpb, Caritas, WHO, bpa