Ein Auszug aus der Definition „Sexuelle Gesundheit“ der WHO:
„Wenn sexuelle Gesundheit erreicht und bewahrt werden soll, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und eingehalten werden.“
Wenn es keine Sexualität gäbe, gäbe es keine Menschen und folglich auch keine Definitionen und Gesetze, welche die Bedeutung und das Recht auf Sexualität extra festschreiben müssten. Doch die natürlichste und elementarste Sache der Welt hat im Laufe der menschlichen Evolution den Weg in einen ganzen Schrank voller Schubladen gefunden. Manche davon stehen offen, andere bleiben verschlossen, wieder andere klemmen oder öffnen sich erst mit der Zeit.
Sexualität in der Pflege ist eine Schublade, die lange geklemmt und sich in den letzten Jahren langsam geöffnet hat. Sie ist randvoll und so komplex bestückt, dass sich ein eigener Schubladenschrank mit den Inhalten befüllen ließe. Sortiert nach Fakten könnte dieser so aussehen:
#1: Sexuelles Grundbedürfnis
Der wichtigste Fakt zuerst: Jeder Mensch hat sexuelle Bedürfnisse, auch ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen oder Erkrankungen. Wenn Menschen auf Pflege angewiesen sind, sind sie in irgendeiner Form auch auf Unterstützung bei der Erfüllung ihrer sexuellen Bedürfnisse angewiesen.
Das Ausmaß hängt dabei von individuellen Faktoren, wie dem Grad der Pflegebedürftigkeit, Art der Einschränkung und der jeweiligen Persönlichkeit ab. Die Unterstützung reicht von geschützten Räumen in Pflegeeinrichtungen bis zur professionellen Sexualbegleitung.
Für Pflegefachkräfte und pflegende Angehörige, die mit den sexuellen Bedürfnissen konfrontiert werden, kann das schwierig sein, besonders in grenzüberschreitenden Situationen.
Die Grenzen sind dabei genauso individuell wie die Unterstützung, die pflegebedürftige Menschen zum Erleben von Sexualität benötigen. So können anzügliches Verhalten oder der Umgang mit sexuell enthemmten Personen, die zum Beispiel infolge einer Demenz in der Öffentlichkeit onanieren, aber auch persönliche Werte, Scham und Moralvorstellungen zu großer Belastung führen.
Um dem entgegenzuwirken, sind Aufklärung, Beratung, gute und offene Kommunikation sowie Schulungen und Konzepte für Fachkräfte und Einrichtungen unverzichtbar.
#2: Sexuelle Dimensionen
„Sexuelle Gesundheit ist der Zustand körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens bezogen auf die Sexualität und bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktionsstörungen oder Schwäche.“
(Auszug Definition „Sexuelle Gesundheit“, WHO)
Sexualität geht weit hinaus über den bloßen Geschlechtsakt oder Masturbation. Neben Lust, Erregung und Selbsterfahrung, bedeutet Sexualität auch Zärtlichkeit, Nähe, Körperkontakt, Geborgenheit. Kurzum: Sexualität vereint ein Spektrum schönster Gefühle, die das Wohlbefinden eines Menschen steigern und somit auch die Gesundheit fördern.
Darüber hinaus schafft Sexualität lebenslange Verbundenheit, wenn Kinder daraus entstehen. Der Fortpflanzungsgedanke ist im hohen Alter vielleicht weniger relevant – bei jüngeren Menschen mit Behinderungen kann der Kinderwunsch aber durchaus bestehen und auch die Unterstützung von Angehörigen oder professionellen Kräften erfordern.
#3: Sexualität: Recht auf Selbstbestimmung
„Sexuelle Gesundheit erfordert sowohl eine positive, respektvolle Herangehensweise an Sexualität und sexuelle Beziehungen als auch die Möglichkeit für lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt.“
(Auszug Definition „Sexuelle Gesundheit“, WHO)
Sexuelle Selbstbestimmung ist nicht nur im gesundheitlichen Kontext bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgeschrieben. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht, verankert in der UN-Menschenrechtskonvention und im Grundgesetz (GG).
Darüber hinaus wurden mit der UN-Behindertenrechtskonvention die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausdrücklich bestärkt. Die sexuelle Selbstbestimmung ist davon eingeschlossen. In Deutschland ist sie zudem in weiteren Gesetzen, wie dem Sozialgesetzbuch (SGB) oder den Wohn- und Teilhabegesetzen (WTG) der Bundesländer verknüpft.
Da sexuelle Selbstbestimmung und spezielle Leistungen für pflegebedürftige Menschen jedoch nicht immer eindeutig erwähnt werden, sind sowohl in der Umsetzung als auch in der Rechtsprechung verschiedene Auslegungen möglich. Ein Beispiel hierfür ist die Kostenübernahme bei der Sexualassistenz:
Gemäß § 29 SGB IX kann ein Persönliches Budget für Leistungen der Sozialen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen beantragt werden. In § 76 SGB IX werden die Leistungen aufgeführt, darunter fallen auch „Assistenzleistungen“. Sexualassistenz wird jedoch nicht ausdrücklich erwähnt. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages kam in einem Sachstand im Jahr 2018 noch zu dem Fazit, dass keine gesetzliche Grundlage zur Kostenübernahme von Sexualassistenz durch Sozialversicherungsträger gegeben ist.
Die Kosten müssen demnach durch eigenes Einkommen oder den Regelsatz der Sozialhilfe bestritten werden. Ein Urteil aus dem Jahr 2022 hat dagegen den Weg in die andere Richtung gewiesen und einem jungen Mann Recht gegeben, dem die Kostenübernahme für die Sexualassistenz nach § 29 SGB IX zunächst von der gesetzlichen Unfallversicherung bewilligt und dann verweigert wurde, woraufhin er geklagt hatte.
Da sexuelle Selbstbestimmung nicht nur Freiheit bedeutet, sondern auch Schutz verlangt, findet sie auch im Strafgesetzbuch (StGB) unter § 177 gegen sexuelle Übergriffe, Nötigung und Vergewaltigung ihren Bezug.
#4: Missbrauch und Gewalt
Sexuelle Selbstbestimmung hört auf, wo das Recht einer anderen Person verletzt wird. Besonders im Pflegeumfeld ist das ein zweischneidiges Schwert, denn ein pflegebedürftiger Mensch kann Opfer, aber auch Täter sein.
Untersuchungen haben ergeben, dass pflegebedürftige Menschen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, Opfer von sexuellem Missbrauch und Gewalt zu werden. Frauen und Mädchen mit Behinderungen sowie ältere Frauen sind dabei besonders betroffen. Die Täter sind oft im nächsten Umfeld zu finden, etwa in der Familie oder in einer Einrichtung.
Umgekehrt können pflegebedürftige Menschen durch unangemessenes oder öffentliches Sexualverhalten anderen Personen schaden. Auch wenn dies oftmals auf Erkrankungen wie Demenz oder geistige Entwicklungsstörungen zurückzuführen ist, stellt es betroffene Angehörige und Pflegefachkräfte vor große Herausforderungen, die nicht mit einem pauschalen Rezept zu bewältigen sind.
#5: Lösungen und Maßnahmen
Sexualität in der Pflege ist vielschichtig und von individuellen Faktoren geprägt – das gilt auch für den Umgang damit. Es gibt keine universelle Lösung, sondern unterschiedliche Möglichkeiten und bewährte Maßnahmen. Dazu zählen zum Beispiel:
Praktisch
- Pflegebedürftigen Menschen Rückzugsorte und Zeit für Partnersex oder Masturbation geben
- Beschaffung von Sexspielzeug und pornografischen Materialien
- Direkte oder technische Hilfestellungen bei körperlichen Einschränkungen
- Hilfe beim Kontakteknüpfen
- Professionelle Sexualassistenz/-begleitung
Allgemein
- Offener Umgang und Kommunikation
- Neutralität und Akzeptanz, zum Beispiel im Hinblick auf die sexuelle Orientierung oder Fetische von Bewohnern
- Konzepte in Einrichtungen, die den Umgang mit Sexualität regeln
- Schulungen und Supervisionen für Pflegefachkräfte
- Beratung durch Sexualexperten für Einrichtungen und Angehörige
- Aufklärung über die Auswirkungen von Pflegebedürftigkeit oder Krankheit auf das Sexualleben
- Einbeziehung von Partnern
Quellen: Bpb, Caritas, WHO, bpa